Ein Scheppern weckte den übermüdeten, dicken Wachmann aus seinem Schlummer. Er schreckte auf, schnappte nach Luft und stieß sich dabei den Kopf an der viel zu niedrigen Decke des kleinen Wärterhäuschens an. Er gurgelte verärgert, dann aber rückte er seine Mütze auf dem Kopf zurecht, versicherte sich, das der schwarze Gummiknüppel, eine behelfmäßige Waffe, die man an Wärter austeilte, in seinem Gürtel steckte und stürmte nach draußen. Die kühle Nachtluft schlug ihm entgegen, und er merkte, dass es leicht nieselte. "Hallo?", rief er, und kam sich etwas dumm vor. Da war bestimmt nur wieder eine dieser Blechkatzen an eine Wand getorkelt. "Ist da wer?" Stille. Nichts antwortete ihm. Er nahm seine Taschenlampe aus der Gürteltasche und leuchtete ein bisschen umher. Außer dem üblichen Müll, der von der Nordmauer nach unten geworfen wurde, war nichts zu sehen. Er seufzte, drehte sich wieder um und stapfte zurück in sein Häusschen, wo er den Rest der Nach verbringen wollte. In diesem Moment hörte er es wieder. Da schepperte ganz eindeutig etwas. Und es war hinter ihm. Seine Nackenhaare sträubten sich, ein sicheres Anzeichen dafür, dass etwas nicht in Ordnung war. Die Angst überkam ihn, denn er hatte seine Furcht vor der Nacht nie ganz überwunden. Er drehte sich ruckartig um, und wollte dem Unbekannten mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht leuchten - da gab die Taschenlampe ihren Geist auf. Der Wachmann fluchte innerlich. Der Steward sollte lieber mal Geld für Ausrüstungsgegenstände seiner Angestellten ausgeben, als für neue Attraktionen. Nun stand er wieder ganze im Dunkeln, und sah absolut nichts. Die Nächte über Wunderland waren schon immer dunkel gewesen, etwas wofür er sich nie hatte begeistern lassen, auch wenn es prima für Feuerwerke war. Der Herzschlag des Mannes raste, und er hoffte, dass es wirklich nur eine Blechkatze war, die dort ihr Unwesen trieb. In der Hoffnung, dass es vielleicht etwas bringen könnte, haute er mit der flafchen Hand auf seine Taschenlampe - und sie sprang wieder an! Erst flackerte sie nur ein bisschen, doch dann drang wieder ein kräftiger Strahl Lichts aus ihr. Er streckte die zitternden Hände aus, und leuchtete nach vorne. Dort stand ein Mann. Er war sehr dünn, sehr groß und hatte einen zerschlissenen Anzug mit einem genauso ramponierten Zylinder an. Der Wachmann musste sich auf die Zunge beißen, um nicht vor Überraschung aufzukreischen, und er versuchte sich vergeblich an die Floskeln zu erinnern, die man in so einem Fall sagte. "Ähm...", begann er kleinlaut. "Sie ... befinden sich auf privatem Besitz des Stewards. Darf ich sie fragen, was sie allein mitten in der Nacht auf seinem Grundstück machen, und was ihr Begehr..." Seine Stimme versagte kläglich und erstarb mit einem mitleiderrendem Piepston. Der Mann währenddessen hatte sich während der ganzen Rede nicht einmal bewegt. Nun hob er seinen Kopf, und lange schwarze Haare fielen ihm aus einem Gesicht, das man nicht einmal mit bestem Willen hässlich nennen konnte. "Wer hat gesagt ... das ich allein hier bin?" Seine Stimme klang rau und brüchig und alt. Der Wachmann drehte sich entsetzt um, doch es war zu spät. Er starb mit dem Bild einer sich abfeuernden Kleinkanone im Kopf.
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Wunderland
FantasyVerschiedene Geschichten, die alle in der Paralleldimension "Wunderland" spielen.