Es war nicht der perfekte Moment für einen Abschied. Ninive stellte das mit einem Anflug von Bedauern fest. Natürlich, es kam ihr eigentlich sehr gelegen. Sie war niemand, dem emotionale Momente besonders behagten. Es lag nicht in ihrer Natur. Und dennoch … es hätte so viele passendere Möglichkeiten gegeben. Strömender Regen beispielsweise, der auf den Asphalt, auf die Wellblechdächer der kleinen Wartehäuschen und das knisternde Plastik der Müllbeutel in der Mitte des Bahnsteigs prasselte – ein Himmel, der den Abschied zweier alter Freunde beweinte. Oder ein sanfter, kühler Sonnenuntergang, dessen Licht wehmütig auf die beiden Personen fiel, die sich auf sehr lange Zeit – vielleicht für immer – Lebewohl sagten.
Stattdessen war die Luft unbeweglich und stickig zwischen den hohen Wänden aus Schallabsorbern, die das Gleis und den Bahnsteig von der Umgebung trennten. Die Luft war etwas zu warm für den späten Herbst und der Boden wiederum kalt. Das Licht war ein uninspiriertes Grau, nicht leuchtend genug um zu wärmen, nicht dunkel genug um die beiden im Schein einer flackernden Lampe wie in einer Theaterszene einzufangen. Sie waren nur zwei Personen auf einem Bahnsteig, die ein betont alltägliches Gespräch führten, während der Zug auf die Minute pünktlich ins Gleis einfuhr.
„Es ist ein sonderbarer Moment, oder nicht?“, brachte Ninive nach Minuten belanglosem Smalltalk schließlich hervor, als der Zug gerade mit einem ohrenbetäubenden Zischen der Druckluftbremsen zum Stehen kam. Rasmus runzelte die Stirn und deutete an, dass er nichts verstanden hätte. Ninive wiederholte ihre Frage.
„Ja, ein wenig schon“, entgegnete Rasmus, „es fühlt sich viel zu normal an.“
„Vielleicht verdrängen wir es schon jetzt?“
„Vielleicht … ich habe Angst vor dem Moment, in dem mir klar wird, dass du wirklich gegangen bist, Ninny. Ich würde gerne mit dir tauschen. Du wirst in nächster Zeit so beschäftigt sein, dass du wenig Zeit haben wirst, über solche Dinge nachzudenken.“
„Ich weiß nicht, Rasmus. Es steht vorher eine lange, einsame Fahrt an … lang genug um über viele Dinge nachzudenken.“
„Mit mir tauschen würdest du dennoch nicht wollen, oder?“, entgegnete Rasmus achselzuckend.
Ninive drehte sich von ihm ab und beobachtete, wie die Türen des Zugs langsam aufglitten. Es waren nur sehr wenige Reisende, die außer ihr auf diesen Zug warteten. Das war nicht weiter verwunderlich, denn er hielt nur an wenigen Forschungsstationen außerhalb von Paris und endete schließlich an einem Militärflughafen. Wer hier ein- oder ausstieg, gehörte entweder einem der Institute oder dem Militär an. „Ich sollte einsteigen“, murmelte Ninive schließlich.
Ihr Abteil war für einen Zug geräumig. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein großer Sessel mit Beistelltisch direkt an einem der Fenster, ein kleines, separates Bad mit Whirlpool. Ninives eigene Wohnung, die sie erst vor wenigen Tagen geräumt hatte, war nicht größer und definitiv spärlicher eingerichtet gewesen. Und dort hatte sie immerhin fast 15 Jahre gewohnt.
„Es ist hübsch hier“, bemerkte Rasmus anerkennend und stellte einen ihrer beiden großen Koffer vor einer kleinen Kleiderkommode ab.
„Ich weiß nicht, ob ich mit so viel Luxus zurechtkomme“, entgegnete Ninive mit einem zufriedenen Lächeln.
„Dann warte ab, bis du erst an Bord des Schiffes bist. Wenn diese Broschüre stimmt, die du mir gezeigt hast, dann ist deine Unterbringung dort fast zehnmal so groß.“
„Diese Broschüre, Rasmus, ist mein Einsatzprotokoll. Aber du hast Recht, ich hoffe, ich werde mich dann nicht schon in meinen eigenen vier Wänden verlaufen. Dennoch … mir fehlt meine Wohnung jetzt schon. So viele Erinnerungen habe ich dort zurückgelassen.“
„Erinnerungen lässt man nicht zurück, Ninive, das ist das Schöne daran. Sie begleiten dich, egal wo du bist.“ Rasmus machte eine Pause und warf einen neugierigen Blick in das kleine Bad. „Erinnerst du dich zum Beispiel daran, wie wir das erste Mal zusammen dein Bad benutzt haben?“
Ninive hatte gehofft, dass er ihre gemeinsame Vergangenheit nicht mehr ansprechen würde. Daran zu denken schmerzte sie. Rasmus war für sie schon seit einigen Jahren nur noch ein guter Freund und kein Liebhaber mehr, aber es hatte eine Zeit gegeben, da wäre ihr der Gedanke, den Rest ihres Lebens ohne seine Nähe zu verbringen, vollkommen absurd vorgekommen. Sie schüttelte den Gedanken ab, bevor sie antwortete: „Ja, du sagtest, zu einer perfekten Nacht gehört ein perfekter Morgen, und dazu gehört eine gemeinsame Dusche.“
„Ja, ein perfekter Morgen“, er lachte, „nur hat sich deine Dusche nie wieder von diesem perfekten Morgen erholt.“
„Was hast du erwartet? Die Duschkabine war doch für mich alleine schon zu klein.“
Ninive trat hinter Rasmus in das kleine Bad und musterte mit kritischem Blick die Einrichtung. Sie war mit fast 1,80 m hochgewachsen und etwa einen halben Kopf größer als Rasmus. Er fand diesen Umstand immer sehr interessant. Ninive weniger. Sie war der festen Überzeugung, dass ihrem Charakter ein kleiner, zierlicher Körper wesentlich angemessener gewesen wäre. Stattdessen war sie groß und – nicht zuletzt durch das missionsvorbereitende Training der letzten Jahre – athletisch durchtrainiert. Sie hätte die perfekte Mustersoldatin verkörpern können. Aber Ninive war in erster Linie Wissenschaftlerin. Und vor allem fühlte sie sich in ihrem Inneren nicht halb so robust, wie es ihr aufgrund ihres Erscheinungsbildes oft unterstellt wurde.
„So einen Whirlpool hättest du damals gebraucht“, riss Rasmus sie aus ihren Gedanken. Er klopfte anerkennend auf den Rand der kleinen Wanne. „Dann wärst du mich bestimmt nie mehr losgeworden.“
„Komm auf keine falschen Ideen, Rasmus“, entgegnete sie, „unsere Geschichte endet nicht mit einem Whirlpool.“
„Ich kann nicht sagen, dass ich das nicht schade finde, aber ich glaube, mir bleibt keine Zeit mehr für ein Bad. Irgendwann wird sich dieser Zug schließlich in Bewegung setzen. Ich glaube“, er warf einen Blick aus dem Fenster neben dem Sessel, „ich sollte mich jetzt verabschieden.“
„Also dann …“, entgegnete Ninive und bemerkte erschrocken, dass ihre Stimme belegt war.
„Pass auf dich auf, Ninny, auch wenn wir uns nicht wiedersehen, solange es dir gut geht, ist mir egal, wo du bist“, er ignoriert mit einem leichten Kopfschütteln ihre Hand, die sie zur Verabschiedung ausgestreckt hielt, und nahm sie in den Arm. „Ich wünsche dir alles Gute dort draußen, aber vergiss die Jahre mit mir nicht. Nimm die Erinnerungen mit.“
Wenige Sekunden später war er aus dem Abteil verschwunden. Ninive blieb alleine zurück und bewegte sich nicht, um das Gefühl der letzten Umarmung noch einen Moment länger aufrecht zu erhalten. Sie hatte einige Sekunden mit den Tränen gekämpft und sie schließlich besiegt. Doch die Schwere, die jetzt auf ihr lag, war wesentlich schlimmer. Sie nahm kaum wahr, dass draußen am Bahnsteig Signale die Abfahrt einläuteten, und erst der Ruck des anfahrenden Zuges löste sie aus ihrer Starre. Sie beschloss, nicht hinaus auf den Gang vor dem Abteil zu gehen und zu gucken, ob Rasmus noch am Bahnsteig wartete. Er würde es wohl ohnehin nicht tun, dazu kannte er sie zu gut. Diese Erkenntnis versetzte ihr einen erneuten Stich. Ihr wurde bewusst, dass sie den einzigen engen Freund, den sie in ihrem Leben hatte, nicht mehr wiedersehen würde.
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Solheim 01 | EUROPA
Science-FictionWenn du vor der Wahl stehst die Zukunft der Menschheit oder deine eigene Vergangenheit zu retten, wie würdest du dich entscheiden? Vor diesem Konflikt steht Ninive Solheim, als sie im Jahr 2113 zu einer Reise aufbricht, die schon bald alles andere...