°○ Leon ○°
"Wo hast du denn deine Freundin gelassen?", fragte Mehmet.
"Die ist wahrscheinlich noch im Bad", antwortete ich. Oder sie war wieder eingeschlafen, ohne überhaupt einen Fuß aus dem Sofa gesetzt zu haben. Das würde mich nicht überraschen, hatte ich doch den Verdacht, dass sie die ganze Nacht über wach geblieben war, während mir irgendwann vor lauter Müdigkeit die Augen zugefallen waren.
"Braucht wohl noch ein bisschen", fügte ich noch hinzu. Das war ja gestern auch so bei ihr gewesen. Da hätte sie wohl auch locker die ganze Nacht im Badezimmer zugebracht, wenn meine Sorge um sie nicht irgendwann zu groß geworden und ich nach ihr gesehen hätte.
"Vielleicht drückt sie sich ja auch vorm Frühstück", meinte Mehmet.
"Ich geh gleich mal gucken", sagte ich.
"Ich will gucken!", forderte Minchen, den Mund voller Nutellabrot und machte gleichzeitig schon Anstalten, aufzustehen, da hielt ich sie schnell am Arm zurück.
"Bleib du mal besser hier!"
Das fehlte mir jetzt noch, dass meine Schwester zu Maria ins Badezimmer platzte. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was sie darin gerade trieb; ich kannte sie auf jeden Fall gut genug, um zu wissen, dass sie jetzt alleine sein und von niemandem gestört werden wollte - am allerwenigsten noch von Minchen. Die wartete doch nur auf den richtigen Moment und dann würde die Ärgerei gleich wieder losgehen.
"Will nicht hier bleiben!", entgegnete Minchen und versuchte sich von mir loszureißen. "Will zu Maria gehen!"
"Nein!"
"Doch!"
"Nein!", sagte ich wieder, da ging meine Schwester auf mich los, krallte ihre kleinen Finger in meinen Arm, beugte sich dann, als ich sie an den Handgelenken packte, nach vorne und vergrub ihre Zähne tief in meine Haut.
Ich stieß ein überraschtes Zischen aus. "Ahh... nein! Minchen... hör auf!", rief ich.
Meine Schwester reagierte nicht.
"Hör auf!" Ich brüllte jetzt, griff Minchen in die Haare, riss ihren Kopf daran hoch und stieß sie dann weg von mir, so heftig, dass sie zu Boden fiel. Und reglos dort liegen blieb.
"Scheiße!" Ich sprang vom Stuhl, kniete mich neben ihr.
Was hatte ich getan? Was war passiert?
"Minchen?" Ich rüttelte meine Schwester an der Schulter, daraufhin öffnete sie die Augen, schien zunächst benommen. Dann trat Panik in ihren Blick.
Sie...
"Minchen?"
... atmete nicht.
"Was ist mit dir?"
Meine Schwester japste und...
"Hey!"
griff sich an die Brust.
"Jetzt hol mal Luft!" Ich begann sie jetzt fester zu schütteln. "Minchen, bitte!"
"Lass mich mal eben!", sagte Mehmet und schob mich zur Seite.
"Komm, Kleine!" Er zog Minchen zu sich auf die Knie. "Ssch... ist ja gut! Das wird gleich wieder", meinte er, hob ihr die Arme über die Schultern und legte sie ihr an den Kopf. "Deine Lunge braucht jetzt nur mal eben ein bisschen länger, um Luft zu holen." Er strich ihr über den Rücken. "Das hatte ich auch schon mal."
Seine Stimme schien Minchen zu beruhigen; kurz darauf gelang es ihr auch wieder zu atmen.
Das war gut und natürlich freute mich das - nur ehrlicherweise war ich auch genauso wütend darüber.
Wie hatte Mehmet Minchen so einfach helfen können, während ich nur wie dumm daneben gesessen hatte?
Und wie hatte diese Scheiße überhaupt erst so weit kommen können?
Doch nur wegen mir!
Ich hatte Minchen zu Boden gestoßen! Deswegen hatte-
"Jetzt mach dich mal nicht verrückt!", Mehmet legte einen Arm um mich. "Ist doch alles gut jetzt."
"Ja... zum Glück." Ich warf einen kurzen Blick auf Minchen, dann schlug ich die Augen nieder. "Ich wollte das nicht."
"Das weiß ich doch." Mehmet rieb mir über den Rücken. "Und deine Schwester weiß das auch", fügte er hinzu, als ich im nächsten Moment kleine Hände spürte, die sich um meine legten. "Leon, kann ich hoch?"
Ich hob Minchen auf meinen Schoß, gab ihr einen Kuss und umarmte sie dann. "Tut mir leid, Minchen, ehrlich." Ich gab ihr einen weiteren Kuss und fühlte mir dabei so schäbig wie schon lange nicht mehr.
Sie war so winzig, dachte ich, nahm Minchens Hand in meine und fuhr mit dem Daumen über deren Fingerspitzen. "Ich wollte das nicht."
Ein dritter Kuss, diesmal auf die Hand.
"Bist du böse?"
"Nein", erwiderte ich. "Ich hab mich nur erschrocken, als du mich gebissen hast."
"Dann bist du nicht böse?", fragte Minchen wieder.
"Nein", wiederholte ich. "Aber das hat mir wehgetan."
"Tschuldung!"
"Alles gut!"
Ich strich Minchen durchs Haar, daraufhin schien es kurz so, als würde sie jetzt anfangen zu weinen, doch dann fing sie sich wieder, strich mir mit den Fingern über meinen Arm, an der Stelle, wo sie reingebissen hatte, beugte sich dann hinunter und drückte einen Kuss darauf.
"Willst du da jetzt so stehen bleiben oder suchst du dir mal einen Platz?"
Ich hob den Blick.
Maria stand in der Tür, die Arme fest vor der Brust verschränkt und die Kapuze meines Hoodies tief ins Gesicht gezogen. Als ob sie sich versteckt, dachte ich, oder ganz unsichtbar machen will.
Ich suchte ihren Blick. "Komm mal hier neben mich!", sagte ich und klopfte mit der freien Hand auf den Stuhl zu meiner linken.
Ein kurzer Moment des Zögerns, dann kam Maria meiner Aufforderung nach, lief zum Stuhl, schob ihn etwas zurück und setzte sich.
"Steht dir gut, der Pullover." Ich legte einen Arm um sie.
"Danke."
Lächelte sie? Ich glaubte nicht, zog ihr die Kapuze vom Kopf, um ihr Gesicht zu sehen. Und riss verblüfft die Augen auf.
"Wie siehst du denn aus?", fragte Manuel, der betrat just in diesem Moment die Küche, trat neben seine Schwester und fuhr ihr mit der Hand durch die Haare, die waren jetzt nicht mehr lang, reichten ihr stattdessen mal gerade noch bis zu den Schultern und-
"Bist du jetzt komplett bescheuert?"
"Lass mich doch!", entgegnete Maria und verschränkte die Arme vor der Brust. "Mir gefällt das so!"
Manuel stieß ein verächtliches Glucksen aus. "Deine Haare sind komplett verschnitten!"
"Ja und?" Maria verdrehte die Augen. "Hab ich ja auch selber gemacht. Da ging das halt nicht besser."
"Ja, aber... Warum hast du das denn überhaupt selber gemacht?", wollte ich wissen. "War doch klar, dass das dann... ich meine..."
"Du meinst, dass das dann hässlich wird?", fragte Maria.
"Das hab ich nicht gesagt."
"Aber gedacht."
"Zu Recht", warf Manuel ein.
"Nein!", rief ich empört.
"Kannst es ruhig zugeben." Maria klang jetzt ernsthaft beleidigt.
"Gar nichts werde ich!" Jetzt musste ich ebenfalls lachen. Was für ein Blödsinn! "Ich wollte nur sagen, dass du besser mal zum Friseur hättest gehen sollen. Anstatt da einfach selber beizugehen.", sagte ich und ließ die Finger meiner rechten Hand dabei mehrmals durch Marias Haare gleiten, Ich seufzte.
"Was machen wir denn jetzt?"
"Lass sie mal ruhig damit unter die Leute gehen", höhnte Manuel. "Dann wird das Prinzesschen schon sehen, was sie davon hat."
"Prinzesschen!", rief meine Schwester. "Will auch Haare schneiden!"
"Nein, Minchen", meinte ich.
"Will Haare schneiden!" Minchen strahlte mich an.
"Nein!", sagte ich wieder. Das fehlte mir jetzt noch!
"Deine Haare bleiben schön so, wie sie sind."
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Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2
Genç KurguEndlich hat Maria es offenbart. Das Geheimnis, welches so lange schon ihr Leben bestimmt. Jetzt ist alles anders. Aber ist es auch besser? *~~•~~* Fortsetzung von: Vogelscheuche und Gürtelschnalle, Teil 1: Offene Wunden *•~~• MARIA •~~•* Ich wollt...