Escalation / Eskalation

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„Frieden und Gerechtigkeit sind ein Widerspruch. Sobald du dem gemeinen Volk gewährst nach Gerechtigkeit zu streben, ist der Frieden dahin. Wir Menschen wollen in Wahrheit keine Gerechtigkeit – niemals. Gerechtigkeit ist der Begriff, den die Armen in den Mund nehmen, um zu rechtfertigen, dass auch sie nach Reichtum, Macht und Ruhm streben, den sie öffentlich anprangern und verachten."

Samstag, 22.08.2020, Italien, Ravello, Cardamone Residenz

Bambina

Die Waffe lag schwer in meiner Hand. Sie hatte ein breiteres Magazin als die Stolp und auch einen deutlich längeren Lauf. Auch war sie kein makelloses, auf Hochglanz poliertes Ding, wie jenes, welches wir im Waffenladen in den USB erworben hatten. Diese, vermutlich in Italien geborene, Handfeuerwaffe wies Kratzer, Dellen und Schrammen auf. Doch jetzt in diesem Moment, da ich sie ganz bewusst in meinen zittrigen Händen hielt fielen mir diese Details das erste Mal auf. Sie waren mir nicht aufgefallen, als Fabiana mir die Waffe erstmalig in den Geheimgängen unter dem Brunnen überreicht hatte und auch nicht in der Zeit, da ich die Waffe heimlich bei mir geführt hatte. Ich hatte all die Zeit lang sorgsam darauf geachtet, dass niemand sie sehen würde und hatte mir dabei nicht die Zeit gelassen, sie mir selbst einmal genauer zu besehen.

Wie viele Kugeln wohl bereits den Lauf dieser Waffe mit einem lauten Knall verlassen hatten und was oder wen diese Kugeln wohl im Anschluss getroffen hatten, fragte ich mich. Ob Leonardo, der Anführer dieses blutigen Kampfes, sie wohl je gehalten hatte, oder ein Oberhaupt der anderen italienischen Familien, die sich miteinander verschworen hatten?

„Huh, was hast du da?", hörte ich Marthas entsetzte Stimme hinter mir sagen. Ich schrak nicht zusammen, sondern verweilte still und gewährte ihr einen langen ausführlichen Blick auf mein baldiges Familienerbstück. Ich würde mich nicht mehr verstecken und kleiner machen, als ich war. Sollten ruhig alle glotzen. Sollte einer der Kriegswächter, Giuliani oder Schulmann versuchen sie mir abzunehmen, konnte ich für nichts mehr garantieren. Niemandem war es geraten sich mir nochmal in den Weg zu stellen. Das hatten sie alle schon zu genüge getan. Doch diese erkaltete Halbwaisin, als die ich ihnen bald schon wieder gegenübertreten würde, hatte nichts weiter zu verlieren.

„Eine Pistole", antwortete ich ruhig. „Ich kenne weder den Modellnamen, noch die Seriennummer und beides interessiert mich auch nicht, solange sie schießt und ich treffe." Ich rollte das schwarze Wollkleid, welches ich trug an meinem Bein nach oben und schob die gesicherte Waffe zwischen den Bund meiner Nylonstrumpfhose und meine Hüfte. Ich ließ den Stoff des Kleides wieder hinabgleiten und strich ihn glatt.

„Und...und was hast du damit vor?", fragte Martha und ich sah, dass sie schwer schluckte. Sie und ich waren allein auf unserem Zimmer, das wir nun würden auf ewig verlassen müssen. Sie hatte mit mir noch einmal unser Gepäck überprüfen wollen. Vermutlich hatte sie mit Tränen meinerseits gerechnet, oder war davon ausgegangen, dass ich nichts weiter sein würde als ein dünnes zittriges Nervenbündel. Dass ich wie selbstverständlich eine Waffe aus dem Kleiderschrank gezogen hatte, war ziemlich überraschend für sie gekommen.

„Sie verwenden, falls ich muss", sagte ich schlicht und griff meinen gepackten Koffer vom Bett. Vielleicht würde nie wieder jemand darin schlafen. Nun war es an mir schwer zu schlucken.

„Musst du?", fragte Martha mit dünner Stimme.

„Ich lasse nicht zu, dass noch jemand meiner Leute diesem unmenschlichen Krieg zum Opfer fällt", erklärte ich. „Falls Giuliani oder irgendein anderer erneut versuchen wird eines dieser Leben zu riskieren, werde ich einschreiten."

Martha sah mich mit nervösen Augen an. „Giuliani ist nicht schuld an Federicos und Dannys Toden."

Ich atmete tief durch und wich Marthas bangendem Blick aus. „Er hätte mehr tun können. Er hätte versuchen können es zu verhindern, doch er hat nur dagesessen und darauf gewartet, dass meine Mutter zur Witwe wurde."

The Secret (BUCH I + 2) Als Mein Vergewaltiger Mir Blumen BrachteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt