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Alle im Raum waren sprachlos. Es war unfassbar, was in Emilys Kopf vorging. Wie sehr ihr Entführer sie auf perfide Art und Weise derart manipuliert hatte, dass kaum irgendwelche Worte, die man an sie richtete, etwas bewirken konnten. Egal, wie man sich ihr gegenüber verhielt oder was man sagte, wie liebevoll man sie behandelte, es machte keinen Unterschied. Sie glaubte, dass das alles nur dazu diente, ihr Vertrauen zu gewinnen. Und dass es nichts zu bedeuten hatte, dass ihr bisher niemand wehgetan hatte, weil sie irgendwann gefoltert werden würde.

Es war unfassbar und erklärte doch zugleich so vieles. Es erklärte, warum Emily Julias Nähe eine Weile lang genossen hatte und dann plötzlich auf Lillys Hinweis hin Angst bekommen hatte. Sie schien nicht zulassen zu wollen, Vertrauen zu fassen. Denn sie glaubte, dass dann alles schlimmer werden würde.

Diese Tatsache war verheerend für die Ermittlungen, denn das machte es um einiges schwieriger, Emily nach ihrem Entführer zu fragen. Schon einmal war sie deshalb in Panik geraten. Nun wusste Julia auch, wieso. Wie sollten sie nur mehr über diesen grausamen Mann erfahren, wenn Emily Angst hatte, gefoltert zu werden, sobald man sie nach ihm fragte? Sie behauptete zwar, nichts über ihn zu wissen, aber sein Äußeres kannte sie bestimmt.

„Emily, das stimmt nicht", erhob Herr Neumann nun wieder das Wort, nachdem er sich von dem ersten Schock erholt zu haben schien. „Ganz egal, ob man dich nach dem Mann fragen wird, niemand wird dich foltern. Ich habe nicht ohne Grund so viel Geld für dich bezahlt. Ich habe das getan, dass du keine Angst mehr haben musst. Dass niemand mehr dir wehtut. Dass du ein freies und glückliches Leben führen kannst."

Dass Herr Neumann behauptete, tatsächlich Geld für Emily bezahlt zu haben, war vollkommen anders abgesprochen gewesen. Doch er schien sich im letzten Moment umentschieden zu haben. Julia konnte ihn sogar verstehen. Er wollte nicht den Vorteil verlieren, dass Emily mit ihm sprach. Tatsächlich erhielten sie dadurch gerade sehr wertvolle Informationen. Er hatte außerdem einen Weg gefunden, es positiv darzustellen.

Dennoch änderte es nichts an Emilys Angst, da sie aufgrund ihrer jahrelangen Gefangenschaft einfach nicht in der Lage war, über ihren Erfahrungs- und Wissenshorizont hinauszublicken. Sie sah in ihrem Vater weiterhin den Mann, dem sie blind gehorchen musste, um nicht bestraft zu werden.

Herr Neumann versuchte noch eine ganze Weile, Emily zu erklären, warum die Menschen keine Monster waren und warum der Mann, der sie gefangen gehalten hatte, eines war. Julia hatte Zweifel, ob die Worte für Emily begreiflich waren. Ob sie irgendetwas davon verstand oder glaubte. Immer wieder antwortete sie mit den Worten „Nein, Vater" oder „Ich weiß nicht", wenn Herr Neumann fragte, ob sie es verstanden hatte. Manchmal nickte sie, wenn ihr etwas logisch erschien. Doch ob sie das wirklich überzeugen konnte? Julia glaubte es kaum.

„Also gut", meinte Herr Neumann schließlich. „Weißt du was? Wir drehen den Spieß mal um. Jetzt hab ich dir ganz viel erklärt. Wie wär's, wenn du stattdessen einfach mal alle Fragen stellst, die du hast? Alles, was du nicht verstehst. Du darfst jeden hier im Raum fragen. Mich, deine Mama, Julia Schneider oder Dr. Frank. Ganz egal. Ich weiß, dass alles hier für dich sehr schwer zu verstehen ist. Deshalb möchte ich, dass du endlich Antworten auf all die Fragen bekommst. Also Emily, nur keine Angst. Du darfst alles fragen, was du willst."

Jetzt war Julia wirklich gespannt. Würde Emily tatsächlich Fragen stellen? Und wie würden diese aussehen?

Emily sah überaus verunsichert aus. Die Sache schien ihr nicht geheuer zu sein.

„Ist... ist das ein Test, Vater?", fragte sie. „So wie das mit den Regeln gestern?"

Julia hätte beinahe laut aufgestöhnt. Sie konnte sich gerade noch beherrschen. Das konnte doch nicht wahr sein! Dieses Mädchen war derart verängstigt, dass sie nichts und niemandem traute. Hinter allem, was geschah, sah sie böse Absichten und Gefahren. Wie hatte dieser Mann sie nur elf Jahre lang behandelt?

Lost GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt