Kapitel 7

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Träume, Ziele, Verabschiedung

Wir trafen uns in Joels Zimmer, allesamt in eine Decke eingehüllt. Jeder der Anwesenden wusste, warum wir uns eingefunden hatten. Aber niemand wusste recht, wie man das Gespräch beginnen sollte und so saßen wir alle nur da und musterten uns, als ob wir so die Gedanken der anderen erraten könnten.
„Vielleicht ist es mit offenen Fenster besser, die Gedanken zu ordnen", meinte Emily und öffnete die Fenster. Kalter Wind wirbelte die staubige Luft auf. Ich sog die Winterluft auf. Sofort begann meine Nase zu kribbeln.
„Mir ist kalt", beklagte sich Joel.
„Wir versuchen gerade nachzudenken, Joel!", sagte ich.
„Ich bin krank!" Ich seufzte und stand auf, um die Fenster wieder zu schließen.
„Danke."
„Wir sind uns doch einig, dass wir weiter nach Norden wollen, oder?", fragte ich in die Runde. Samuel nickte.
„Wollt ihr, dass wir erfrieren? Hier in Mittelfinnland ist es schon eisig genug, meiner Ansicht nach.", diesmal nickte Joel bekräftigend.
„Wir können ja nach Westen weiter ziehen." Schließlich einigten wir uns auf den Kompromiss, nach Nord-Westen weiter zu ziehen. Ein Jahr lang. Bis zum unsichtbaren Ziel, welches wir noch nicht erkennen konnten.
,,Aber wir brauchen doch ein Ziel, welches unsere Träume erfüllt, nicht eine Himmelsrichtung!", mischte sich Emily ein.
,,Aber wir kennen unsere Träume doch gar nicht! Wie sollen wir dann das
Traum- Ziel finden?", entgegnete Franziska. Samuel seufzte laut und brachte damit die Streithähne zum Schweigen.
Wieder war es unangenehm ruhig. Emily hatte eindeutig recht. Wir mussten einander besser kennen, um unsere Träume zu erfüllen. Vielleicht besaßen auch nicht alle Träume. Vielleicht waren manche aus anderen Gründen hier. Dann gab es vielleicht kein richtiges Ziel, sondern etwas viel mächtigeres. Genau das war das Problem. Wir wussten es nicht und deshalb mussten wir eine Himmelsrichtung gehen, um wenigstes nicht ziellos in der Gegend rumzuirren.
„Was habt ihr für Träume?", hauchte Emily. Als niemand antwortete, sagte sie: „Mein Traum ist es, stark zu werden. Stark nicht im Sinne von Muskelkraft, sondern psychisch. Dass ich nicht nachgebe, hinfalle und untergehe. Wahrscheinlich ist das ein Traum, der nicht in Erfüllung gehen wird." „Er wird in Erfüllung gehen.", sagte ich. „Du musst an ihn glauben, du musst ihn weiter verfolgen. Dann kannst du es schaffen." Emily sah mich erst zweifelnd an, dann lehnte sie zurück und grübelte. Ein paar Mal nickte sie und ich hoffte, dass sie meine Worte zu Herzen genommen hatte.
Aber was ist mein Traum? Abzuhauen. In der Wildnis Finnlands zu leben. Frei. Das habe ich erreicht, aber habe ich noch einen anderen Traum? Der mich vollends glücklich macht? Ich weiß es nicht. Um es heraus zufinden, muss ich den Weg weiter gehen. Den Weg meiner Träume. Gerne hätte ich jetzt gewusst, was in den anderen vorging. In Franz. In Franziska, Joel und Samuel. Bisher hatte nur Emily ihr Herz geöffnet. Von den anderen wusste niemand etwas. Bald löste sich die Runde auf und alle kehrten in ihre Zimmer zurück.
Samuel begleitete mich die Treppe runter. Fast wäre ich gestürzt, doch er fing mich zum Glück auf.
„Danke", murmelte ich und richtete mich wieder auf. Samuel sagte nichts, lächelte aber.
„Du hast da was", ich zog ein Blatt aus seinen Haaren und zeigte ihm es.
„Wie kommt das denn dahin?"
„Es fühlt sich halt wohl bei dir." Ich legte meine Hände um seinen Hals und stellte mich auf Zehnspitzen um ihn zu küssen. „Wir sollten es lassen.", sagte er vorsichtig. Ich wurde steif. Was sollten wir lassen? Küssen? „Ich weiß es ist hart, aber ich möchte nicht, dass ich mich zwischen dich und deinen Freund stelle. Ich möchte nicht verletzt werden, und glaube mir, ich weiß, wie sich das anfühlt." Geschockt stand ich einfach da und wusste nicht, was ich sagen sollte. Wovon redete er? Samuel nahm meine Hände von seinen Schultern und ließ sie wieder los. „Außerdem war es nur ein Kuss. Er hatte nichts zu bedeuten. Es tut mir leid.", flüsterte er und ließ mich stehen. Entsetzt schaute ich ihm hinterher und versuchte zu begreifen, was er gerade gesagt hatte.

Ich konnte nicht schlafen. Meine Gedanken blieben immer wieder bei Samuel hängen. Was hatte er damit gemeint, er wollte sich nicht zwischen mich und meinen Freund stellen? Ich hatte keinen Freund.

Die nächsten zwei Wochen verliefen im selben Rhythmus. Morgens hockte ich bei geöffnetem Fenster in Bad und weinte, mittags aß ich alleine in dem Speiseraum und nachmittags bis abends hockte ich bei Venla. Bald wurde sie meine engste Vertraute und eine Art Schwester. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es werden sollte, wenn Joel wieder gesund war und die Reise fortgesetzt wurde.

Aber so kam es. An einem kalten Vormittag packte ich meinen Rucksack, warf alles lustlos hinein und ging dann zu Venlas Zimmer. Ich hatte beschlossen, mich zu verabschieden, obwohl mir klar war, dass es mir das Herz zerreißen würde. Venla fiel mir gleich um den Hals und weinte bitterlich. Sie flehte mich an, mitzukommen, obwohl sie selber wusste, dass das nicht ging.
„Ich werde dich besuchen kommen. Versprochen", sagte ich.
„Ich weiß, dass du es nicht hältst", sagte Venla und weinte nur noch heftiger.
„Doch, ganz bestimmt. Ich muss jetzt gehen." Venla klammerte sich an mich und redete auf mich ein. Ich konnte mich nur schwer befreien, einerseits, weil ich es nicht doll genug versuchte, andererseits, weil Venla mich so doll umschlang.
Schließlich schaffte ich es und trat raus auf den Flur. Ich hörte, wie Venla gegen die Tür hämmerte, aber ich durfte nicht nachgeben. Machs gut. Unten standen schon alle und verabschiedeten sich von der Erzieherin. Ihr Blick war wie immer ausdruckslos, aber wir wussten, dass sie uns lieb gewonnen hatte. Sie quasselte etwas in Finnisch, was so viel hieß wie: Passt auf euch auf. Dann drückte sie einen nach dem anderen noch mal. Joel bedankte sich ein Dutzend mal bei ihr für die Medikamente und Samuel steckte die beiden Kompässe ein, die ihm ein finnischer Junge reichte. Ich musste lächeln. Dieser Junge hatte in weniger als fünf Minuten unsere beiden Kompässe, die wir nicht einmal ansatzweise in einer halben Stunde hinbekommen hatten zu reparieren, Funktionsfähig gemacht.

Dann gingen wir auf die Straße. Ein eiskalter Wind ließ unsere Nase in den ersten Minuten erfrieren und wir alle holten unsere Schals heraus. Ein letztes Mal blickte ich hoch zu einem kleinen Fenster, wo ein Mädchen saß und traurig zu mir runter schaute. Dann wandte ich wieder den Kopf. Ich musste stark sein und Venla hinter mir lassen. Sonst würde ich daran zerbrechen.Nach einer Weile, unsere Glieder schmerzten schon vor Kälte, kauften wir uns in einem kleinen Second Hand Shop jeder noch eine warme Jacke und Franz spendierte für jeden ein zweites paar Handschuhe. Alle waren bei der Sache und diskutierten darüber, welche Farbe ihnen wohl am besten stehen würde, nur ich nicht. Mit den Gedanken war ich immer noch bei Venla.
Noch schwerer bepackt gingen wir die Straße weiter. Es war eine lange, nicht enden wollene Straße. Nun, da wir alle nicht mehr fröstelten, redeten wir fröhlich miteinander. Nur ich ging für mich alleine und beobachtete Samuel und Emily, die sich angeregt unterhielten. Ich hätte kotzen können, als ich sah, wie Samuel Emily über den Rücken rieb. So ein Miststück. Als Emily dann noch Samuels Hand nahm und er es zulies, reichte es mir.
„Was bist du nur für ein Arschloch! Erst küsst du mich, dann meinst du, wir sollten es lieber sein lassen und nennst ein paar nicht existierende Gründe und jetzt! Jetzt flirtest du mit jemand anderen. Du bist so mies!" Einen verwirrten Samuel hinter mir stehen gelassen, sprang ich über eine Absperrung und verschwand in einem dichten Wald.

Traumpfad (Bis 2045 pausiert!) Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt