21. Mein zweites Ich

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POV Rick

Wenn Luft schneiden könnte, dann wäre ich jetzt tot. Es war unbestreitbar, dass Melinas Auftritt filmreif war. Sie sah ganz anders aus als vorher, doch trotz allem war sie irgendwie immer noch die gleiche.

Eine herzliche, empathische, junge Frau, die das Leben aller anderen verbessern wollte. Doch trotz allem hatte sie kühler gewirkt. Die Last auf ihren Schultern schien unendlich groß. So etwas passierte schnell, wenn man die Verantwortung für so viele Leute auf einmal trug.

Das war somit nicht das Wiedersehen, auf das Daryl gehofft hatte. Er wirkte wie ferngesteuert. Eigentlich fiel es mir nie schwer, mit Daryl zu reden, auch wenn der Schütze meist sehr einsilbig war. Doch nun wusste ich nicht so recht wie ich anfangen sollte.

Ich konnte hören wie der Gurt von Daryl eingesteckt wurde. Das typische klacken ertönte. Den Schlüssel, der noch immer im Zündschloss steckte, ließ sich ganz einfach von mir drehen. Mit einem leisen schnurren sprang der Wagen an. Der kleine sonderbare Vogel saß noch immer auf Daryls Schulter und gab hin und wieder ein leises tschilpen von sich.

"Und? Das kam unerwartet, oder nicht?"
Na toll. Daryls Blick reichte aus, um mir zu verstehen zu geben, dass dieser Einstieg nicht der richtige war. Andererseits gab es überhaupt einen richtigen Einstieg in dieses Gesprächsthema? Ich war mir sicher, dass niemand mir diese Frage würde beantworten können. Doch irgendetwas musste ich sagen, sonst würde ich vielleicht doch noch an der Stille sterben.
"Ich bin mir sicher, es wird sich alles irgendwie klären. Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Vielleicht gab es einen Notfall oder so was? Oder..."

Daryls Blick brachte mich zum Verstummen. Eine Mischung aus Unglaube und Schmerz. "Ja, ich bin mir ganz sicher." Sein abfälliger Ton traf mich unerwartet. Doch er konnte mich nicht hinters Licht führen.
Dafür kannte ich den Schützen schon zu lange und zu gut. Er war tief verletzt über ihr Verhalten und ihre Reaktion vorhin. Doch ich war mir sicher, dass sich alles irgendwie fügen würde.

Ohne noch weiter auf mich zu achten, stierte er aus dem Fenster. Mit einem lautlosen Seufzer trat ich das Gaspedal durch und fuhr Richtung Haus zurück.

Es musste einfach wieder gut werden. Wenn nicht, würde ich selber dafür sorgen, denn so war es kaum zum Aushalten.

POV Melina

"Du hast mich allein gelassen, Melina, ohne ein Lebenszeichen. Eine Nachricht von jemanden, ein Brief, irgendwas. Irgendwas, das mir die Gewissheit gegeben hätte, dass meine Zwillingsschwester am Leben ist. Mein Blut, mein zweites Ich, mein Leben. Ich war am Ende, habe deinen Tot betrauert und um dich geweint. Melina Sophie Scale, ich wäre beinahe gestorben und du hast es nicht für nötig gehalten mir irgendein Lebenszeichen zu geben? Mein Herz war gebrochen!"

Jonathan war ein wenig vor uns um den Anschein von Privatsphäre zu halten, doch so wie mein Bruder mich seit mehreren Minuten anschrie konnten sie jedes Wort hören.
Ich ließ ihn wüten, ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Mir war bewusst, dass er seinen Gefühlen irgendwie Ausdruck verleihen musste. Wäre ich in seiner Situation wäre es nicht anders.
"Warum Melina? Weißt du eigentlich was ich durchgemacht habe? Wieso hast du dich nicht bei mir gemeldet?"

Seine Stimme brach zum Ende hin. Fahrig fuhr er sich über sein Gesicht und holte tief Luft.
"Ich weiß, was du durchgemacht hast, Chris. Mir ging es ähnlich. Cupid wollte mich nicht gehen lassen, weil mein Zustand nicht unbedingt der war. Ich habe mich jedoch über ihn hinweggesetzt, als es mir immer schlechter ging." Chris sah eingefallen und sehr viel älter aus als er eigentlich war. Wir waren beide am Ende unserer Kräfte. "Cupid wollte nicht, dass ich dir schreibe. Er dachte, dass du sofort heim kehren würdest, die Gruppe brauchte dich jedoch." - "Melina, du bist die Lisix, Cupid kann dir nichts mehr verbieten. Natürlich hätte ich nach dir sehen wollen, ein kurzer Besuch hätte ausgereicht. Nur um sicherzugehen, dass es dir auch wirklich gut geht, dann hätte ich wieder zur Gruppe zurückkehren können."

Ich konnte spüren, dass er noch immer aufgebracht war und innerlich brodelte. "Ich schätze, ich hatte Angst.", flüsterte ich. "Chris, ich bin beinahe gestorben, dann habe ich Evan - Vater dabei zugesehen wie er stirbt, auf einmal bin ich Lisix, du und Daryl immer noch auf der Erde auf der Beißer lauern... Ihr hättet jederzeit sterben können, ohne dass ich euch hätte helfen können. Gott Chris, wenn einem von euch beiden was passiert, dann sterbe ich. Ihr seid mein Leben. Ich hatte Angst und habe versucht, das Richtige zu tun." In meinem Hals steckte ein Kloß und ich musste mich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Dies war nicht von Erfolg gekrönt. Wie von selbst lief die erste Träne meine Wange hinunter. Danach gab es kein halten mehr. Eine Träne nach der anderen ran unaufhaltsam mein Gesicht hinunter. Ich wollte nicht schwach wirken. Immerhin war ich Lisix ich musste stark sein, doch ich konnte nicht aufhören, egal wie sehr ich mich bemühte, es wurde nur schlimmer. "Flieg schonmal zurück zum Haus, wir kommen später nach." Die Antwort darauf konnte ich nicht hören, vielleicht war es nur ein Nicken.

Mit einem tiefen Seufzer der Kapitulation nahm Chris mich in die Arme. Das war der Moment, in dem alle Dämme brachen. Ich wurde von Schluchzern geschüttelt, ebenso wie Chris. Wir klammerten uns aneinander wie Ertrinkende an den Rettungsring.

"Du hättest es sein sollen. Ich weiß nicht, was ich tun soll. So viel Last und Verantwortung. Ich habe mich ganz allein gefühlt. Und Evans Beerdigung - es war schrecklich." Zitternd drückte ich mich näher an Chris. Dieser strich mir mit einer Hand über den Rücken.

"Jetzt nicht in mehr, Mel. Du bist nicht mehr allein. Wir schaffen das, zusammen. Du und ich, wir bekommen dass irgend hin. Hörst du?" Ich konnte nur ein Nicken zustande bringen. "Solange ich noch lebe, wirst du niemals allein sein. Verstanden?" Wieder brachte ich nur ein Nicken zustande.

"Es tut mir leid.", schluchzte ich nach einer ganzen Weile. "Ich weiß, mir ebenso."

Wir sahen uns gegenseitig an. Ich wusste, dass er verstanden hatte und er wusste, dass ich verstanden hatte. Wir meinten alles. Und wir wussten, dass wir uns gegenseitig verziehen hatten und uns vertrauen konnten.

So wie wir es schon immer konnten.

The Angel Who Watches Over MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt