Abigail
"Seien Sie herzlich Willkommen im Hause Freeman. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?", tönte es verzerrt aus der Gegensprechanlage. Ich hämmerte so laut ich konnte an die weißen Torflügel mit den protzigen, goldenen Klinken, um meine Dringlichkeit deutlich zu machen.
"Steve, ich bin's, mach auf, verdammte Hacke", erwiderte ich durch den Lautsprecher.
"Entschuldigen Sie, aber ohne eindeutige Identifikation Ihrer Person bin ich leider nicht befugt, Sie einzulassen." Meine Güte war der blöd. Manchmal wunderte es mich wirklich nicht, dass ich diejenige war, die ihm Befehle erteilen durfte, und nicht andersherum. Manchmal, ganz manchmal nur, war die Welt dann doch ein bisschen fair.
"Steve, sag mal bist du bekloppt? Gott, ich bin Abigail Morgan Sue Freeman, die Tochter Ihres verdammten Chefs, die fast jeden Morgen ein doppeltes Spiegelei isst. Reicht das an Identifikation, du Spießer?" Endlich ertönte ein leises Surren und der rechte Torflügel öffnete sich wie von Geisterhand. Ich sah einen fluffigen Schatten durch meine Beine ins Hausinnere huschen, der mir sehr bekannt vorkam.
"Saphira! Futter gibt's erst in einer Dreiviertelstunde du bescheuertes Katzenvieh." Ich stand nun vollkommen alleine in der großen Eingangshalle und hörte das leise Surren, mit dem die Tür sich wieder schloss. Die kühle Luft hier drinnen stand in einem krassen Gegensatz zur warmen, abendlichen Sommerbrise und sofort überzog eine Gänsehaut meinen kompletten Körper.
"Mom! Dad!", brüllte ich, dass es laut von den Wänden widerhallte, doch wie so oft bekam ich keine Antwort. Es war niemand da, ich war allein. Wie immer.
Ich dachte an Mom. Wie ging es ihr? War Dad gut zu ihr? Ich kannte meinen Dad. Und genau deswegen hatte ich Angst. Ich wünschte mir nichts mehr, als dass dieser Mensch aus meinem Leben verschwand, doch Mom ließ ihn machen. Machen, was immer er wollte. Sie liebte ihn, nein, sie vergötterte ihn. Und ihre Liebe machte sie blind für all seine Fehler.
Mit leichten Schritten tanzte ich die Mamortreppe hoch in meine Zimmer. Ich war vollkommen verspannt vom langen Sitzen auf den harten Stühlen in der Schule. Hätte ich noch genug Zeit, wäre eine Massage jetzt genau das Richtige.
Als ich in mein Zimmer trat, kniff ich kurz meine Augen zusammen, denn die Abendsonne durchflutete in ihrer ganzen Pracht mein Schlafzimmer. Sie beleuchtete mein Himmelbett und ließ es aussehen, als würde es brennen. Auch mein roter Teppich kam durch diese Beleuchtung erst richtig zur Geltung und leuchtet regelrecht auf. Ich lehnte mich an den Türrahmen und kickte mir die Schuhe von den Füßen. Verträumt schaute ich ihnen hinterher. Diese schwarz-weißen Pumps waren wirklich toll, auch wenn sie nicht unbedingt teuer gewesen waren.
Plötzlich spürte ich, wie ich überrollt wurde. Von unterdrückten Emotionen, von verbotenen Gefühlen. Abgeschoben in die hintersteEcke meines Kopfes. Verbannt und nicht beachtet. Mir rollte eine kleine, leise Träne über die Wange. Es gab keinen ersichtlichen Grund, es war einfach die Konfrontation mit allem, was ich die meiste zeit verdrängte. Aber manchmal brauchten auch Gedanken Luft, und dann kamen sie hervor und nahmen sich, was sie wollten.
Mein Leben war auf den ersten Blick toll. Und auf den zweiten. Und auch auf den dritten. Denn niemand blickte hinter die Fassade, niemand versuchte es auch nur. Es reichte ihnen allen, wenn ich ihnen Abigail, die strahlende Schönheit und Trendsetterin in jedem angesagten Modemagazin, das man finden konnte, zeigte. Sie gaben sich damit zufrieden. Sie hakten nicht nach, sie nahmen mich so hin, wie ich mich gab. Sie wollten glauben, dass ein glückliches Leben das war, was ich hatte. Denn es war greifbar, es war theoretisch für jeden erreichbar. Es wäre für sie nicht auszuhalten, wenn sie erführen, dass Glück nichts mit all diesen materiellen Dingen zu tun hatte. Die Menschen wären hilflos, wenn sie kein so klares Ziel mehr vor Augen hätten.
Sie wollten auch einfach nicht mehr das sehen, was sie immer zu sehen schienen. Wir alle hatten schon von den Stars gehört, die an ihrem Ruhm zerbrachen. Die dem Druck und der ständigen Kontrolle nicht standhielten. Vielleicht genossen sie es, dass ich mich ihnen so perfekt und strahlend hingab, wie sie es sich wünschten. Sie sahen das, was sie sehen wollten.
Ich meine, nicht einmal ich selbst wollte etwas von meiner Vergangheit wissen. Nicht von der Gegenwart. Und erst recht nicht von der Zukunft. Ich wollte das alles genauso wenig sehen. Doch ich sollte glücklich darüber sein, wo ich jetzt war.
Warum war ich es dann nicht?
Ich wischte mir die Träne von der Wange, bevor ich den salzigen Geschmack auf meinen Lippen spüren konnte. Ich musste mich ablenken.
Als sich meine Augen an das grelle Rot gewöhnt hatten, entdeckte ich auf meinem Nachttisch eine neue Ladung Zeitschriften. Ich fischte mir eine aus dem Chaos und blätterte sie kurz durch. Auf einmal keuchte ich auf. Diese Schuhe! Knallgelbe High Heels mit weißem Plateau und weißen und schwarzen Riemchen.
Ich wollte gerade mein iPhone zücken und Megan von diesem Schuhtraum erzählen, als mir einfiel, dass sie mich wahrscheinlich blockieren würde. Sie hasste Schuhe, Kleider und einfach alles, was nicht aussah wie ein besserer Kartoffelsack. Sie war was das angeht eben unverbesserlich. Schrecklich, um es ganz unverblümt auszudrücken.
'Ich war versucht dir zu schreiben, dass ich unglaublich tolle Schuhe gefunden habe, aber anhand meine Genialität weiß ich schon jetzt, dass du mich blockieren wirst, wenn ich dir das Bild schicke.', hämmerte ich in die Tastatur, weil ich mich ihr dann doch irgendwie mitteilen musste.
Zwei Sekunden später vibrierte es kurz und ich öffnete die Nachricht: 'Ganz richtig, du Nilpferd. Und wenn ich auch nur den Hauch eines Bildes auf meinem Bildschirm hier auftauchen sehe, dann blockiere ich dich mindestens drei Tage lang!'
Na super, dann wäre ich erledigt. Charmant wie immer. Sie war immerhin die einzige, mit der ich gefahrlos schreiben konnte, ohne mir jedes Wort genau vorher zu überlegen. Das wusste sie natürlich und nutzte es wie immer schamlos aus. Ganz abgesehen davon hasste ich es, wenn sie mich Nilpferd nannte.
'Wie ich mich immer über deine interessanten Beiträge zu unglaublich relevanten Themen freue. Das zwischen uns, das muss etwas ganz besonderes sein. Meine Genialität sagt mir gerade, dass du mir nachher den Kopf abreißen wirst, weil ich dich davon abhalte, dich für John fertig zu machen. Aber das ist ja das Tolle, meine Genialität kenn einfach keine Grenzen', antwortete ich ihr.
'Ach Süße, lass dir eines gesagt sein: Der Unterschied zwischen Genialität und Dummheit ist der, dass die Dummheit keine Grenzen kennt...' Und damit ging sie offline. Sie und ihre schlauen Sprüche. Alle rissen sich darum, meine Freundin zu sein, nur Megan war es anscheinend scheißegal.
Ich warf meine Haare kunstvoll zurück, ärgerte mich darüber, dass diese meisterhaft ausgeführte Bewegung niemand gesehen hatte, und machte mich auf den Weg in meinen Kleiderschrank. Mit einem Seufzer öffnete ich die Tür und stürzte mich in meine über Jahre angesammelte Kleidung. Mom predigte mir in einem vorübergehenden Anfall von mütterlichem Pflichtgefühl immer mal wieder, dass Ordnung in einem Kleiderschrank das A und O sei, aber wozu? Nur Langweiler brauchen Ordnung, ein Genie herrscht über das Chaos. Außerdem war das mein Kleiderschrank.
Zwanzig Minuten später stand ich jedoch noch genauso in Minirock und Bluse da wie heute Morgen. Es waren zwar überall wunderschöne, teure Klamotten, aber nirgendwo sah ich die richtigen. Zu jedem Anlass gab es die richtige Kleidung, aber ich brauchte jedes Mal ewig um sie irgendwo in den Dimensionen meines Schranks zu finden. Ich wühlte noch einmal in den hintersten Ecken, um dann ein Schmuckstück zu finden: mein altes, schwarzes Glitzertop. Sofort hatte ich das passende Bild vor Augen. Jetzt rannte ich wie eine Begaste in meinem Schrank herum und suchte mein Outfit zusammen.
Zweifelnd sah ich zehn Minuten später meine Kreation an. Mein Top, eine Jeans-Hotpants, eine rote Lederjacke und wunderschöne, schwarze High Heels, die vorne offen waren, mit je einem schwarz-glänzenden Schmuckstein.
War das auch nicht zu schlicht? Zum Besaufen durfte man nicht zu Mauerblümchen-mäßig erscheinen, das ging dann schon eher in Richtung Megan.
Also komplett daneben.
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Avenging Angel - Schönheitsschlaf für Anfänger | #DreamAward2018 #SpringAwards18
Teen Fiction„Nach mir die Sintflut." Ein Satz, der im Original von Abigail Morgan Sue Freeman hätte stammen können. Ein Motto, das ihr Leben äußerst gut beschreibt. Reich, schön, hochintelligent. Perfekt, vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Das ist es, was al...