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Emily hatte gesprochen! Und sie hatte etwas gegessen!

Julia konnte noch immer kaum glauben, was sie gerade erlebt hatte. Emily hatte tatsächlich das erste Mal mit einem anderen Menschen als ihrem Vater gesprochen. Und sie schien endlich verstanden zu haben, dass ihr nichts passierte, wenn sie etwas aß. Dass es sogar gewünscht war. Und vor allem, dass sie sich nicht mehr auf diese Weise selbst bestrafen musste.

Auch wenn ein Besuch bei Emily immer auf eine bestimmte Weise bedrückend war, war Julia nach diesen Entwicklungen tatsächlich glücklich, als sie Emilys Zimmer verließ. Welche große Bedeutung doch die kleinsten Dinge haben konnten – Dinge, die für jeden Menschen eigentlich vollkommen selbstverständlich waren –, wenn man plötzlich einem Kind begegnete, für das es alles andere als das war. Bei dem man hart darum kämpfen musste, dass es etwas aß oder mit einem sprach. Ein Kind, das vor diesen Selbstverständlichkeiten sogar Angst hatte! Es war unfassbar und Julia musste zugeben, dass sie ein wenig stolz darauf war, dass Emily ausgerechnet mit ihr das erste Mal gesprochen hatte.

Doch so glücklich Julia über diese kleinen Entwicklungen auch war, der Hass auf Emilys Entführer kannte keine Grenzen. Je mehr sie über ihn erfuhr, desto brodelnder wurde die Wut. Sie konnte nicht fassen, dass er Emily damit gedroht hatte, ihr den Mund solange zuzukleben, bis sie verlernt hatte, zu sprechen. Wie sollte ein Mädchen wie sie nur mit einer solchen Drohung umgehen? Sie hatte ja keine Vorstellung davon, was das bedeutete. Was glaubte sie denn, wie lange es dauerte, das Sprechen zu verlernen? Oder wie sie dann an Nahrung kommen sollte? Die Drohung musste sie vollkommen verstört haben! Kein Wunder, dass sie nie Wort gesagt hatte, egal, wie wichtig es gewesen wäre.

Es machte Julia sprachlos, welches Lügenkonstrukt dieser Entführer für Emily aufgebaut hatte. Er hatte ihr doch tatsächlich weisgemacht, dass er sie vor den Menschen beschützen würde. Dass die Menschen Monster waren, die ihr wehtun wollten. Das Wissen um diese Lügen machte Emilys Verhalten der letzten Tage so viel nachvollziehbarer.

Sie war nicht einfach nur ein verängstigtes und traumatisiertes Kind. Nein, sie glaubte tatsächlich, dass sie jedes Mal einem Monster gegenüberstand, wenn jemand ihr Zimmer betrat. Es war kaum vorstellbar, unter welchen grausamen Ängsten das Mädchen hatte leiden müssen. Julia war froh, dass sie durch die – wenn auch etwas fragwürdige – Entscheidung des Vaters endlich Stück für Stück mehr über Emilys Gefühle und Gedanken erfahren konnten. Diese Informationen waren unheimlich wertvoll für den weiteren Umgang mit ihr.

Inzwischen war Julia auf dem Weg zu Emilys Eltern, denen ein kleines Besprechungszimmer zur Verfügung gestellt wurde, wo sie sich in Ruhe und ungestört aufhalten konnten. Emily wollte unbedingt ihre kleine Schwester sehen, um sicherzugehen, dass es ihr gutging. Und Julia wollte ihr diesen Wunsch selbstverständlich erfüllen.

„Frau Schneider!", wurde sie sofort von der Mutter begrüßt, als sie nach einem sanften Klopfen das Zimmer betrat. „Hat sie etwas gegessen? Hat unsere Emily gegessen?"

Sorge schwang in ihren Worten mit sowie der tiefe Schmerz, den die Mutter ausstrahlte, wann immer es um Emily ging. Sie litt schwer unter dem Wissen, was ihre Tochter durchgemacht hatte. Und darunter, ihr nicht helfen zu können. Die Hilflosigkeit ihrem eigenen Kind gegenüber, das sie nach elf Jahren nicht wiedererkannte, sondern stattdessen voller Angst vor ihr erzitterte, setzte ihr zu – verständlicherweise. Julia wollte sich nicht einmal vorstellen, wie es sich angefühlt hätte, wenn ihre kleine Sophie nicht mit ihr hätte reden wollen. Wenn sie sich ängstlich von ihr weggedrückt hätte, jedes Mal, wenn Julia sie getröstet hatte.

Es war unvorstellbar, was Emilys Mutter gerade durchmachte. Sie hatte ihre Tochter endlich wieder, aber sie war eine Fremde für sie. Eine Fremde und in ihren Augen sogar ein Monster.

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