Eine Geschichte über Liebe.

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„Das hier ist eine Geschichte. Nun ja, um genau zu sein ist es meine Geschichte. Ziemlich unspektakulär und auch nicht Welt bewegend, dennoch wunderschön. Wie in fast jeder anderen Geschichte auch, geht es um die wahre Liebe. Um was auch sonst?
Wenn ich mich recht erinnere begann alles am 22. Dezember...
Die Luft war eisig und der Asphalt war mit Schnee bedeckt. Überall versuchten Menschen auf den letzten Zug noch irgendwoher ein passables Geschenk aufzutreiben. Sie eilten gehetzt durch die Straßen, drängten sich genervt durch die Menge und fluchten was das Zeug hielt. Zusammengefasst: Trotz den Weihnachtskugeln an den Bäumen und den Lichterketten an den Laternen war die Stimmung alles andere als Weihnachtlich. Nirgends war etwas von der in Büchern beschriebenen Nächstenliebe zu spüren. Stattdessen schienen die letzten Tage vor dem Fest zu einem erbitterten Einzelkampf zu werden.
An der Ecke Richtung Bahnhof schrie ein kleines Mädchen aus vollem Halse und versuchte sich mit Händen und Füßen gegen ihre verzweifelte Mutter zu wehren. Um sie herum atmeten alle Eltern auf, froh darüber, dass es nicht ihr Kind war, welches die Aufmerksamkeit aller Passanten auf sich zog. Alle Aufmerksamkeit außer meiner...
Es war das erste Mal, dass ich den kleinen Buchladen wirklich bemerkte.
'Geschichtsstube' stand in weißen Lettern über dem Geschäft. Durch die Glasscheibe des Schaufensters blickte man direkt zwischen die vielen Bücherregale, mitten hinein in das Herz der kleinen Bibliothek. Ein Blick genügte und ich wusste, wo ich den heutigen Tag verbringen würde. Wie von selbst trugen mich meine in warme Schnürboots gepackten Füße durch die Fußgängerzone, bis zu der alten blau gestrichenen Türe. Ein leises Klingeln erfüllte den Raum als ich den goldenen Türknauf nach unten drückte und langsam eintrat. Das komplette Zimmer war ausgefüllt mit Büchern aller Art. Von Comics bis zu alten Romanen und sogar mehreren Lexika war alles dabei. Meine Augen leuchteten, während ich ein paar Schritte ging und bereits zwischen den ersten beiden Regalen zu stöbern begann. Bücher waren seit jeher meine große Leidenschaft gewesen. Es faszinierte mich, wie Autoren es schafften ihre Leser mit an Orte zu nehmen von denen sie vorher nicht einmal gehört hatten. Und ich liebte es mich in Werken zu verlieren und - wenn auch nur für einige Sekunden - nicht Ich sein zu müssen. Dann musste ich mich nicht mit meinen Problemen beschäftigen, sondern konnte einfach in eine andere Welt eintauchen.
Die Zeit verstrich und die Bücher auf meinem Arm wurden mehr. Es fiel mir schwer mich zu bremsen und erst als die große Wanduhr 20:12 zeigte, gab ich mich damit geschlagen, nicht all diese wundervollen Bücher lesen zu können. „Du liest gerne, oder?" fragte die ältere Frau hinter dem Tresen als ich meine fünf Finalisten vor ihr auf dem Tisch ablegte. Lächelnd nickte ich, wobei meine Mütze ein Stück verrutschte. „Nun, dann würde ich mich freuen, wenn du mich öfter mit deinem Besuch beehren würdest." Schmunzelte sie und reichte mir eine Tüte in der ich die Bücher verstaute. „Ich könnte dir dann ein paar deiner Bücher zurücklegen und du müsstest sie nicht alle kaufen, sondern könntest sie hier lesen."
Rasch nickte ich. „Das wäre toll, danke." Meinte ich und winkte ihr zum Abschied, als ich das kleine Bücherparadies in Mitten des Großstadtdschungels verließ. Draußen schneite es bereits wieder große Flocken. Fest umklammerte ich meine Büchertüte und machte mich auf den Weg nach Hause.

In den folgenden Tagen und Wochen kam ich immer öfter in die kleine Bibliothek an der Fußgängerzone. Dann setzte ich mich zu der Bibliothekarin, trank mit ihr Tee, diskutierte mit ihr über Bücher oder saß einfach nur in einem Buch vertieft da. Die kleine Bibliothek wurde mit jeder Minute, in der ich durch die Gänge zwischen den Regalen lief und nach dem perfekten Buch suchte, mehr zu meinem Zuhause und meinem Rückzugsort vor dem stressigen Alltag. Es dauerte nicht lange, dann fragte mich die ältere Bibliothekarin ob ich nicht daran interessiert wäre dort zu arbeiten. Und so verbrachte ich schließlich noch mehr Zeit in dem kleinen Buchladen, nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Die Tage zogen vorbei und es wurde wärmer. Das beraten der Kunden machte mir Spaß, da ich so gut wie jedes Buch in den Regalen kannte. Auch der Frühling ging ins Land und so kam der Sommer. Und darauf folgend dann der Herbst. Fast ein Jahr war vergangen als ich ihn das erste Mal zwischen den Bücherregalen auf dem Boden sitzen sah. Die dunklen Haare waren unter einer Mütze versteckt und seine Nase war tief in einem meiner Lieblingsbücher vergraben. Seit diesem Tag im Oktober sah ich ihn öfter hier. Er saß dann meist im Gang, mit dem Rücken gegen eines der Regale gelehnt und schien die Welt um sich herum gar nicht mehr zu bemerken. Ich glaube es war ein paar Wochen später, als ich es nicht mehr mit ansehen konnte und aus einer der Leseecken ein rotes Kissen holte. „Der Boden muss doch langsam unbequem werden, oder nicht?" fragte ich schmunzelnd und legte das Kissen neben ihn. Er hob den Kopf und grinste. Es war ein echtes Grinsen. Nicht das, welches ein gestresster Geschäftsmann der Kassiererin schenkte, wenn sie ihm seine Sachen reichte und auch nicht das, welches die U-Bahn Kontrolleure aufsetzten, wenn ein paar Jugendliche brav ihr Ticket bezahlt hatten. Nein, es war ein echtes Grinsen. Kindlich und ungezwungen.
Seit diesem Tage lag dort zwischen den Regalen ein rotes Kissen. Manchmal wechselte es den Platz, wenn er mit einem Buch fertig war und sich ein Neues gesucht hatte. Dann bemerkte ich meist schmunzelnd, dass ich dieses bereits kannte und wartete auf seine Reaktion während er die letzten Zeilen las. Wenn ihm das Ende zum Beispiel nicht gefiel und er kopfschüttelnd den Kopf gegen die Regalwand lehnte. Natürlich gab es dann da auch die Tage an denen die Flure leer blieben und ich mich dabei ertappte, wie ich von meinem Buch aufblickte, nur um einen Blick auf des rote Kissen zu werfen, welches unberührt auf dem Boden zwischen all den Büchern lag. Das waren dann die Momente in denen ich mich fragte warum es mir nicht egal war, ob er kam oder nicht. Aber aus irgendeinem Grund war es mir nicht egal und aus irgendeinem Grund freute es mich wenn die Türe aufging und der Junge mit den verstrubelten Haaren den Buchladen betrat. Und so verging die Zeit wieder und aus Herbst wurde Winter. Aus Winter wurde Frühling und nach dem Frühling kam bekanntlich der Sommer. Dies war ein Sommer an den ich mich gerne zurück erinnere. Nicht weil es besonders heiß war, nein, (es hat die meiste Zeit in Strömen geschüttet) sondern weil es der Sommer war in dem er mich zu bemerken schien. Und plötzlich lagen dort im Gang auf dem Boden zwei rote Kissen.
Etwas irritiert hatte ich den Kopf schräg gelegt und zu dem Jungen gesehen der schmunzelnd auf den leeren Platz neben sich geklopft hat. Ich hatte den Kopf gedreht und mich im Raum umgeschaut, um zu sehen ob er nicht vielleicht jemand anderen meinen könnte. Doch außer uns beiden war niemand in der Nähe. Daher trat ich zögernd auf ihn zu und ließ mich schließlich neben ihn sinken.
Es war ein verregneter Tag im Juni als wir zum ersten Mal wirklich miteinander sprachen und nicht nur kurze Blicke tauschten. Ab diesem Zeitpunkt sah ich es öfter. Dieses kindliche, unbekümmerte, vollkommen von der Welt losgelöste Grinsen.
„Magst du mit mir einen Kaffee trinken gehen?" Verwirrt blickte ich von meinem Buch auf und blickte direkt in seine wunderschönen braunen Augen. „Also ich meine wenn du nicht möchtest ist das okay. Ich wollte nur mal Fragen, um zu sehen ob ich eine Chance hätte." Murmelte er schnell und sah etwas verlegen weg. „Nein, nein. Also ich meine Ja. Ja ich würde gerne einen Kaffee mit dir trinken gehen." Sagte ich. Und dann hatten wir unser erstes Date. Stundenlang könnte ich über diesen Moment in meinem Leben reden. Und das obwohl es doch eigentlich nur ein Kaffee war, den wir uns auf der anderen Straßenseite geholt hatten. Nach diesem Tag trafen wir uns auch außerhalb der Bibliothek, obwohl der Haupttreffpunkt der kleine Buchladen an der Ecke Richtung Bahnhof blieb. Wir lachten und redeten viel, und es gab nur wenige Tage an denen die beiden roten Kissen unbesetzt blieben. Auch jetzt in diesen Momenten blieb die Zeit jedoch nicht stehen und so wurde es nach vielen warmen Tagen wieder kälter. Die Blätter fielen von den Bäumen und es war die perfekte Zeit für eine heiße Schokolade und ein gutes Buch. Wie auch schon im Jahr zuvor wurde die Bibliothek zu dieser Zeit voller als zuvor und immer öfter klingelte in diesen Tagen das kleine Glöckchen um Kundschaft anzukündigen.

Es war einer der ersten kalten Tage, als sich die Türe öffnete und eine junge Frau den Buchladen betrat. Ihr blondes Haar fiel in leichten Wellen über ihre Schulter als sie sich die rote Mütze vom Kopf zog und sich umsah. Lange Zeit hatte ich versucht ihren Namen zu verdrängen. Doch immer öfter hatte er mir von ihr erzählt und das Vergessen so gut wie unmöglich gemacht. Oft hatte er Stundenlang nur von ihr geschwärmt und mich dazu gebracht mich nachts in den Schlaf zu weinen. Jeden Tag aufs Neue trug ich ein falsches Lächeln und habe still seinen Erzählungen von ihrem ersten Kuss oder den vielen Dates gelauscht. Umso öfter er sich mit ihr traf, umso öfter saß ich zu dieser Zeit alleine in der Bibliothek. Immer weniger wurden unsere gemeinsamen Stunden in denen wir über Shakespeare fantasierten und uns Fortsetzungen für unsere Lieblingsbücher ausdachten. Und insgeheim hatte ich gewusst, dass der Tag kommen würde an dem er das letzte Mal durch die blaue Türe tritt und sich neben mich auf das rote Kissen fallen lässt.
Und der Tag kam. Wie all die anderen Male zuvor hatte er mir am Abend gewunken und hatte mit einem Grinsen den Buchladen verlassen. Trotzdem war es diesmal anders gewesen. Danach sah ich ihn lange Zeit nicht mehr. Die Wochen vergingen und irgendwann legte ich die beiden roten Kissen schweren Herzens zurück zu all den anderen Kissen. In jedem Buch las ich Zeilen über ihn und in jedem Lied fand ich Teile über unsere gemeinsame Zeit.
Doch auch das ging vorbei. Es wurde Frühling und es wurde Sommer. Reflexartig drehte ich meinen Kopf jedes Mal zur Türe wenn ich die kleine Glocke läuten hörte. Doch es vergingen drei Sommer, ehe der Junge mit dem ansteckenden Grinsen und den verstrubelten Haaren den kleinen Buchladen an der Ecke Richtung Bahnhof erneut betrat.
Es hatte sich viel verändert, doch als ich durch das Schaufenster blickte und die roten Kissen auf dem Boden liegen sah, fühlte ich mich wieder wie neunzehn. Und all die glücklichen Wochen die wir gemeinsam verbracht hatten und die ich lange Zeit erfolgreich verdrängt hatte kamen mir erneut in den Sinn.
Automatisch krallten sich meine Finger in den Ledergriff meiner Tasche. Ich beschleunigte meine Schritte und drückte mit zitternden Fingern den Türknauf nach unten. Noch einmal atmete ich tief durch und trat ein. Meine Augen schnellten durch den Raum und fanden sofort die seinen. Er hatte sich vom Boden erhoben und sah zu mir. Zögerlich trat er ein paar Schritte auf mich zu und hob die Arme leicht. Alles andere um uns herum spielte keine Rolle als meine Tasche von meinen Schultern rutschte, ich den Abstand zwischen uns überquerte und ihn in die Arme schloss.
Und plötzlich war alles wie früher. Der Junge mit den verstrubelten Haaren, die roten Kissen, die Diskussionen über all die vielen Bücher und das Lachen dieses einen ganz besonderen Jungen. Wir verbrachten Stunden damit über alles zu reden was in den vergangen Jahren passiert war. Mit keinem Wort erwähnte er das Mädchen. Und das war gut so.

Es war der 19. Dezember als er mich zum ersten Mal küsste. Seine Lippen waren weich und schmeckten nach Tee. Und an jede Minute dieses Tages kann ich mich noch heute erinnern. Es war ein Mittwoch und es war schrecklich kalt draußen. Und wie so ziemlich alles andere Bedeutsame in meinem Leben war es in dem kleinen Buchladen an der Ecke Richtung Bahnhof.

Das ist sie also. Die Geschichte, wie ich mich ausgerechnet in einem Buchladen in den Jungen verliebte, der mich alle Bücher aus der Hand legen ließ und mich süchtig nach der realen Welt machte..."

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