Verrat. Es war das einzige was ihn interessierte.
Der Junge, dessen Namen niemand kannte, tat alles um Menschen zu verraten. Es war ihm egal, auf welche Weise er es tat. Hauptsache, er hatte Spass an der Sache. Es war zu seinem Hobby geworden, aber erzählen konnte er das niemandem. Schließlich würde es niemand gut heißen, wenn man ihm erzählte, dass man in seiner Freizeit gerne Menschen hintergeht. Doch der Junge verstand nicht, wieso es eigentlich so eine große Sache war. Alle hatten Dinge die sie gerne taten und das war nun mal das was er gerne tat. Er gaukelte ihnen vor, sie gerne zu haben. Ließ sie ihm ihre tiefsten Geheimnisse verraten, nur um am Ende alles davon zu erzählen. Um den Menschen das zu nehmen, was ihnen am wichtigsten war.
Als der braunhaarige an diesem Abend in die Kneipe ging, die er ständig besuchte, war alles wie immer. Der Geruch von Schweiß und Alkohol hing in der Luft, die Menschen unterhielten sich über die Tische hinweg und in einer Ecke hebten die Musikanten mit ihren flotten Stücken die Stimmung.
Der Junge hatte wenig Geld. Um sein Leben ein wenig erträglicher zu machen, ging er deshalb jeden Tag hierher und stahl dem ein oder anderen auch mal etwas aus der Tasche. Es hatte nie jemand gemerkt.
Die Menschen lachten. Und er hasste es. Er hasste es, weil es ihm nie vergönnt gewesen war zu lachen. Er war nie glücklich gewesen. Deswegen tat er alles um andere unglücklich zu machen. Der Junge machte sich auf dem Weg zu seinem Stammtisch, als er sie entdeckte.
Die Schönheit des blonden Mädchens verschlug ihm den Atem. Sie saß in der Ecke und unterhielt sich mit einem jungen Mann. Schon von hier konnte er die strahlend blauen Augen des Mädchens sehen.
Der Junge beobachtete sie eine lange Zeit, was dem Mädchen nicht unbemerkt blieb. Auch sie ließ ihre Augen ab und an zu dem Jungen schweifen.
Als sie sich nach ihrem Gespräch mit dem Herren zu dem Straßenjungen setzte, schlug sein Herz höher. Jemanden wie sie hatte er noch nie gesehen. Nicht mal seine Mutter war so schön gewesen, und das obwohl er immer dachte, niemand könnte je schöner sein als sie. Ihre Stimme war klar, und wunderschön.
Er durfte ihrer Stimme die ganze Nacht zuhören. Sie unterhielten sich über die unterschiedlichsten Dinge, und ihm fiel auf, dass es das erste mal seit Ewigkeiten war, dass er hier war ohne andere zu bestehlen oder sie mit falschen Versprechen zu füttern.
Ihre Gespräche waren ehrlich und er hatte jedes Wort ernst gemeint.
Nach diesem Abend konnte er kaum schlafen. Ein Grund dafür war, dass die junge Frau ihm nicht mal ihren Namen verraten hatte. Vielleicht hatte sie die selben Gründe wie er selbst. Niemand kannte seinen Namen. Es gab niemanden, dem er ihn nennen könnte, müsste oder wollte.
Sein einziger Wunsch war es, sie wiederzusehen. Egal wann und wo.
Also ging er auch am nächsten Abend an den Ort, wo sich die meisten Menschen in seinem Dorf trafen, um sich zu betrinken, zu feiern oder einfach gemütlich beisammen zu sein. Er wartete nicht lange, bis sie auftauchte. Sie ging direkt auf ihn zu und es schien, als würde sie es kaum erwarten können mit ihm zu reden. Sie waren vertraut. Und das, obwohl sie sich nicht mal wirklich kannten.
Die nächsten Tage waren ähnlich. Die beiden hatten in kürzester Zeit eine Bindung aufgebaut, die sie vorher noch nie zu jemandem hatten.
Als sie an diesem Abend gemeinsam auf dem Dach der alten Taverne saßen, war er sich sicher.
Er hatte nur einer Person vorher so sehr vertraut wie ihr. Und dieser Person hatte er alles erzählt. Also wollte er auch ihr alles erzählen.
Und so fing er beim Anfang an. Wie sehr er seine Mutter geliebt hatte und wie grausam sein Vater zu ihr gewesen war. Wie grausam er zu ihm gewesen war. Dass seine Eltern jeden Tag stritten, und dass er sie geschlagen hatte. Jedes Mal. Tag und Nacht. Bis sie keine Kraft mehr hatte, das Wort gegen ihn zu erheben. Also hatte sie sich ihm gefügt. Sein Vater hatte sich die Ehefrau erzogen, die er haben wollte.
Er erzählte ihr von dem Tag, der sein Leben verändert hatte. Sein Vater hatte die Hand gegen ihn erhoben. Nachdem er etwas länger mit seinen Freunden draußen gewesen war, als er es ihm erlaubt hatte.
„Du wirst es nie wieder tun. Du weißt jetzt was sonst passiert." ,hatte er gesagt. Niemand hatte ihm je so weh getan. Egal in welcher Hinsicht. Ihm tat alles weh. Sein Gesicht, sein Kopf, sein Herz.
Sein Gesicht war tränenüberströmt gewesen. Er war erst 8 Jahre alt. An diesem Tag, tat seine Mutter das, was jede gute Mutter getan hätte. Ihr Ehemann war ihr egal gewesen. Also schrie sie ihn an. Sie hämmerte mit Fäusten gegen seine Brust, spuckte ihm ins Gesicht.
An diesem Punkt war er in sein Zimmer gegangen. Die Schreie waren so laut, dass die halbe Nachbarschaft sie gehört haben musste.
Aber irgendwann haben sie aufgehört. Es war totenstill. Er ging zur Tür und schaute in das alte, schäbige Wohnzimmer. Sein Vater stand darin und schaute auf seine Frau herab. Die Mutter des Jungen lag auf dem Boden. Die Augen geschlossen. Ihr Brustkorb bewegte sich nicht.
In diesem Moment realisierte er, dass seine Mutter tot war. Er realisierte, wer sie getötet hatte.
Er war so wütend, dass er schreien wollte. Der achtjährige war am Boden zerstört. Aber er durfte nicht weinen. Er verbat es sich selbst.
Er sah den alten Schürhaken an der Wand. Der Junge nahm ihn in die Hand und öffnete, so leise er konnte, die Tür zum Wohnzimmer, in dem immer noch sein Vater stand und ihm glücklicherweise den Rücken zu drehte.
Er ging leise auf ihn zu. Und in dem Moment, in dem er seinem Vater, dem Mörder seiner Mutter, am nächsten war, schlug er zu. Der alte Mann ging zu Boden. Aber der Junge schlug nochmal zu. Mehrmals. Er wollte ihn tot sehen.
Er hatte seine Mutter getötet.
Nun lag sein Vater ebenfalls auf dem Holzboden und atmete nicht mehr. Eine Blutlache breitete sich aus. Um den Hals seiner Mutter zeichnete sich ein dunkler Abdruck. Der Sohn schaute seine Eltern noch ein letztes mal an, bevor er los rannte.
Raus aus dem Haus. Weg von dem Ort, der sin Leben zerstört hatte. Er rannte, bis er er keine Luft mehr bekam. Bis er nicht mehr wusste wo er war.
Das war der Tag an dem sein Leben zugrunde ging. Der Grund warum er der Mensch war, der anderen weh tun wollte. Er wollte keine glücklichen Menschen sehen. Wieso sollten andere glücklich sein, wenn er selber es nie gewesen war.
Als der Junge seine Geschichte beendet hatte, schaute das Mädchen ihn an. Traurig, besorgt und voller Mitleid.
„Ich heiße Finian. Finian Jake."
Seit dem Tod seiner Mutter, war es das erste mL, dass er seinen Namen aussprach. All die Jahre hatte er keinen gehabt.
Und dann umarmte sie ihn. Auch das hatte seit 8 Jahren niemand mehr getan. Und diesmal erlaubte er es sich zu weinen. Traurig zu sein.
Nach diesem Abend fühlte er sich anders. Erleichtert. Und er ging trotz allem, trotz all den schrecklichen Ereignissen in seinem Leben, glücklicher ins Bett.
Doch mitten in der Nacht wurde er geweckt. Das blonde Mädchen stand neben seinem Bett und rüttelte ihn.
„Ich hab dich verraten.", sagte sie trocken.
Er schaute sie nur fragend an. Er verstand nichts mehr.
„Ich hab ihnen verraten was du getan hast. Wen du getötet hast. Sie suchen dich, aber sie werden eine Weile brauchen. Niemand kennt deinen Namen, also können sie das ganze Land nach Finian Jake absuchen. Sie werden ewig brauchen bis sie dich finden."
„Wieso hast du das getan?"
Er fühlte sich schrecklich. Wie konnte er ihr je vertrauen?
„Ich hab dich nur mit deinen eigenen Waffen geschlagen. Was ist es was du schon dein Leben lang tust? Du hast Leute verletzt. Mein Gott, du hast sie hinter Gitter gebracht! Du hast meine Freunde verletzt. Und tut es dir leid?"
„Ich hasse dich."
„Tust du nicht. Du bewunderst mich. Und glaub mir das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich will dass du abhaust. Geh, solange du noch kannst. Irgendwann werden sie dich finden. Also verschwinde."
„Du verrätst mich, nur um mir dann zu sagen, dass ich gehen soll bevor sie mich finden?"
„Ich hasse dich für das, was du all die Jahre getan hast. Aber trotzdem tust du mir leid. Und ich bin nicht bereit, dich einsperren zu lassen, ohne dir vorher eine Chance gegeben haben zu fliehen. Verschwinde. Jetzt."
Er schaute sie an. Fassungslos, verletzt.
Aber er schenkte ihr zum Abschied ein Lächeln, welches sie erwiderte. Er wollte nicht, dass seine einzige Freundschaft, die er all die Jahre gehabt hatte, ohne ein letztes Lächeln zu Ende ging.
Und dann rannte er. Aus dem billigen, verrotendem, fast verfallenem Haus in dem er sich seit Ewigkeiten versteckte. Er rannte die Strasse entlang. Aus dem Dorf heraus. Weg von dem Ort, der sein Leben gerettet hatte. Und weg von der Person, die ihm am meisten bedeutet hatte. Weg von der Person, die sein Leben schöner gemacht hatte. Weg von der Person, an die er sich für immer erinnern würde.
Er rannte bis er keine Lift mehr bekam. Bis er nicht mehr wusste wo er war.
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Betrayal
Short StoryEin Tag, und sein Leben stellte sich auf den Kopf. Eine Sekunde, und er bekam es unter Kontrolle. Ein Blick, und es geriet aus dem Gleichgewicht.