Es ist ein Spätsommermorgen im Jahre 2009
Die spätsommerlichen, goldenen Sonnenstrahlen wecken dich sanft auf. Energiegeladen und voller Elan stehst du auf und freust dich darauf gleich deine Freunde in der Schule zu sehen. Aufgeregt in Windeseile putzt du dir deine Zähne, ziehst dein rotes Lieblingsshirt mit einem Buchfink drauf an und suchst deine letzten Schulsachen zusammen, bevor du dir deine neuen, blauen Turnschuhe anziehst und aus dem Haus stürmst. Auf deinem Schulweg wartest du am Friedhof auf deine Freunde aus den Nachbargassen, wie jeden Morgen. Als sie endlich ankommen, lauft ihr gemeinsam dorfabwärts zur Grundschule. Vor der Schule sammelt sich eine Vielzahl von Eltern, die ihre Kinder zur Schule bringen. Ihr kommt an der Schule an, als ein großer Traktor an euch vorbeifährt, um seinen Arbeitstag auf dem Feld fortzusetzen. Du kannst es kaum abwarten, dass der Unterricht zusammen mit deinen Freunden und deiner Lieblingslehrerin beginnt. Ungebremst braust ihr zum Klassenzimmer, wo ihr euch an eure festen Plätze setzt. Da kommt auch schon eure Lehrerin und der Unterricht beginnt. Heute sprecht ihr über den Beruf des Försters und seine Aufgaben. Es klingelt zur großen Pause. Das Leben ist schön. Zusammen mit den Jungs rennst du auf den Pausenhof, um Fußball zu spielen. Für einen Augenblick vergisst du, dass du in der Schule bist. Zusammen freut ihr euch über jedes einzelne Tor, was ihr gemeinsam als Team erspielt. Nach der Schule gehst du in die Betreuung, wo du zusammen mit den Nachmittagskindern deine Hausaufgaben erledigst. Es kann gar nicht schnell genug gehen. Das schöne Wetter erlaubt es auf den Pausenhof zu gehen. So stürmst du mit anderen Nachmittagskindern zusammen auf den Hof, um mit ihnen Versteckfangen zu spielen. Mit einem Mädchen aus der Nachbarklasse beschließt du, dass ihr euch hinter dem Busch neben dem Klettergerüst versteckt. Als der Sucher sich weit genug vom Abschlageort wegbewegt, schleichst du dich aus dem Gebüsch heraus und beginnst in einem beachtlichen Tempo zu rennen. Du fällst hin. Deine Knie sind aufgeschlagen, das warme Blut läuft an deinem Schienbein herunter, aber das ist egal, denn du möchtest unentdeckt bleiben. Eilig stehst du auf, rennst weiter und schlägst dich am großen Baum an der Grenze zum Feld ab. Du freust dich, denn du hast es gerade so geschafft. Deine blutigen Knie interessieren dich gar nicht. Nach einiger Zeit ruft euch die Betreuerin wieder hoch. Es ist drei Uhr. Du suchst deinen Schulranzen und läufst zusammen mit den Nachbarskindern nach Hause. Auf dem Weg vereinbart ihr, dass ihr euch in einer halben Stunde auf dem dorfeigenen Bolzplatz trefft. Als du zuhause ankommst, nimmt dich deine Mutter in Empfang, die sich nicht so sehr über deine blutigen Knie erfreut. Aus der Abstellkammer neben der Küche holt sie ein Pflaster und versorgt deine Wunden. Fertigversorgt trinkst du schnell ein Glas Wasser, bevor du dich schon wieder auf den Weg zum Bolzplatz machst. Fünfzehn Kinder jeden Alters versammeln sich voller Freude vor dem Tor des staubigen Platzes. Ohne große Diskussion beginnt ihr zu spielen, wie jeden Sommernachmittag. Trotz der vollen Konzentration behältst du die Uhr auf dem gelben Kirchturm im Auge, da deine Mutter dir gesagt hatte, dass du um spätestens halb sechs zuhause sein sollst. Die Sonne setzt so langsam zur Dämmerung ein, als du mit dem Nachbarsjungen zusammen dorfaufwärts nach Hause läufst. Zuhause angekommen hat deine Mutter schon das Abendbrot vorbereitet. Nach dem Essen machst du dich fertig und legst dich ins Bett. Du kannst es kaum abwarten, dass der nächste Morgen zu anbrechen beginnt. Voller Vorfreude schließt du deine Augen und träumst von deinen Erlebnissen, die du an diesem Tag erlebt hast.
Die meisten von uns haben ähnliche Erinnerungen an die eigene Kindheit. Sorgenbefreit haben wir uns beinahe auf jeden einzelnen Tag gefreut. Jedes Hindernis wurde als Abenteuer hingenommen. Voller Lebensfreude durften wir in die Zukunft blicken. Wir träumten davon eines Tages zum Mond zu fliegen oder Feuerwehrmann zu werden. Von kleinen, unwichtigen Dingen haben wir uns nicht abbringen lassen. Jeder Tag wurde von Anfang bis Ende gefüllt mit Lebensfreude gelebt. Das Leben war schön. Ein Streit wurde schnell mal vergessen. Dein neugierdegeplagtes Ich hat alles hinterfragt. Du wolltest alles wissen, um später mal super schlau zu sein. Deine Liebe zum Leben hat man schon von Weitem aus gesehen. Doch was ist, wenn du plötzlich deine Liebe zum Leben verlierst. Wenn du von heute auf morgen deinen Tag nicht mehr leben kannst? Wenn alles sich wie ein unüberwindbarer Kampf anfühlt? Dinge, die früher so banal schienen, werden plötzlich zu einer unüberwindbaren Lebensaufgabe. Es fühlt sich so an, als hätte dich die Realität mit ihren kältesten Winden eingeholt.
11 Jahre später
Dein Wecker klingelt. Übermüdet musst du feststellen, dass du immer noch existierst. Scheissse. Du schaust übermüdet auf die Uhr und bist nicht gewillt einen Fuß aus dem Bett zu setzen. Jedoch zwingt dich deine Mutter aufzustehen, sodass du wortwörtlich aus dem Bett fällst. Vor dem Schrank stehst du gedankenverloren und starrst deine Klamotten an. Du willst dir eigentlich überlegen, was du dir anziehen wirst, vergisst jedoch für einen Moment alles um dich herum. Nach zwei Minuten völliger Leere bemerkst du, dass du immer noch unentschlossen dastehst, und greifst einfach nach irgendeinem schwarzen Oberteil, welches du zur Hose, die du gestern getragen hast, anziehst. Hauptsache irgendwas anziehen. Auf dem Weg zum Schreibtisch, um deine Schulsachen zu packen, kämmst du dir kurz deine Haare durch. Einen Blick in den Spiegel traust du dich gar nicht zu werfen, da du sonst vor Selbsthass anfängst vor Wut zu kochen und dich gleichzeitig vor Ekel übergeben zu müssen. Nachdem du dir im Bad schnell die Zähne geputzt hast, ziehst du deine alten, dreckigen Turnschuhe an und wandelst wie ein gefühlloser, kalter Schatten zur Bushaltestelle. Dir ist irgendwie nach Schreien zu mute, jedoch hast du nicht einmal die Kraft dazu. Auf die Schule freust du dich genau so wenig, wie auf deine Mitschüler. Es ist eine enorme Belastung von Menschen umgeben zu sein. Die ganze Geräuschkulisse bringt dich tagtäglich aus dem Konzept. Es fühlt sich an, als würden unzählige Menschen um dich herumstehen und in allen möglichen Tonlagen schreien, bis du vor Schmerzen zusammensacken könntest. Im Bus starrst du gedankenverloren aus dem Fenster, nimmst jedoch nicht mal die wunderschöne, spätsommerliche Umgebung wahr. Im Unterricht ziehst du dich zurück und blickst müde auf deinem karierten Block. Vor einem Jahr warst du noch eine der aktivsten Schüler. Deine Hausaufgaben waren immer ausführlich und in beachtlichster Ordnung erledigt. Jede Frage, die der Lehrer stellte konnte von dir beantwortet werden. Heute kannst du nicht einmal zuhören, da dir jegliche Konzentration fehlt. Jeder Blick auf die Uhr ist eine Qual. Die Zeit könnte nicht schneller vorbei gehen. Du sehnst dich nach deinem Bett. Nach Schlaf, um deine Sinne zu betäuben. In der Pause stehst du zwischen den Leuten deines Jahrgangs. Wahrgenommen wirst du nicht, sodass es eigentlich gleichgültig wäre ob du da bist, oder nicht. Nach den unzähligen Stunden in der Schule fährst du wieder nach Hause, wo du dich sofort ins Bett legst und versuchst durch Schlaf vom Leben zu fliehen, bis du zum Abendessen gerufen wirst. Appetit hast du überhaupt nicht. Danach schleppst du dich wieder auf dein Zimmer, schließt die Tür, legst dich ins Bett und schaust wie so oft gehen die Decke. Die kleinen Holzspäne der Tapete drehen sich im Kreis. Dir wird schwindelig. Gegen 23 Uhr fällt dir auf, dass du dich mal bettfertig machen könntest und zerrst dich selbst mit letzter Kraft ins Bad. Danach legst du dich in dein kaltes, unordentliches Bett und beginnst irgendwelche Sachen auf deinem Handy zu schauen, jedoch nimmst du nicht einmal wahr, was du dir da überhaupt anschaust. Nach einer halben Ewigkeit wirfst du gestresst einen Blick auf die Uhr und stellst fest, dass es bereits 4:37 Uhr ist. Auf der einen Seite möchtest du schlafen, um der Realität zu entfliehen. Auf der anderen Seite hast du Angst zu schlafen, da sonst direkt der nächste Tag einsetzt, auf den du mal wieder keine Lust hast. Dieser Gedanke hält dich mal wieder so lange wach, bis du gegen 5:30 Uhr dein Bewusstsein verlierst und schläfst.
Für viele mag das alles nach einem fiktiv, übertriebenen Beispiel klingen, aber stell dir vor, dass es dir Tag für Tag so ergeht. Du hast keine Kraft mehr, um irgendwas zu tun. Selbst kleine, unwichtige Dinge kosten dich plötzlich mehr Energie, als du dir überhaupt vorstellen kannst. Du fühlst dich unverstanden und wünschst dir einfach nur zu verschwinden. Dem Alltag, der Realität zu entfliehen. Selbst auf die tollsten Ereignisse kannst du dich nicht mal mehr freuen. Hoffnungslosigkeit, Selbsthass und ein trüber Schleier, der deine Sichtweise auf den Leben verdeckt, ist dein alltäglicher Begleiter. Menschen, die du früher geliebt hast stoßt du unbewusst ab. Fühlen kannst du schon lange nicht mehr. Man kann sich das vorstellen, als wäre man nur eine leere Hülle, die zu gar nichts nutz ist. Tag für Tag kämpfst du alleine gegen den Drang des Verschwindens an. Du warst doch mal so sorgenbefreit und harmonisch. Da stellt man sich die Frage, wie man von dem scheinbar glücklichsten Kind der Erde, voller Lebensfreude, Liebe und Motivation zur wahrscheinlich gefühllosesten Gestalt geworden ist. Wie das wahrscheinlich spannendste Abenteuer ,,Leben'' plötzlich zu einem aussichtslosen Kampf mit einem selbst geworden ist?
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Kurzgeschichtensammlung
PoetryZu lang für ein Gemälde, zu kurz für einen Roman - herzlich willkommen in meiner Kurzgeschichtensammlung