Die Begegnung

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Kapitel 7 | Yumi

- Die Begegnung -

Ich hatte gar nicht so schnell reagieren können, wie er auf mich zugerannt und mich zu Boden gerissen hatte. Meine Gedanken waren noch nicht zurück, als dass ich sofort auf seine Frage hätte antworten können. 
Die Hölle. Ich war mir sicher, dieser junge Mann hatte geträumt, im Höllenreich von Ungeheuern gequält zu werden. Ich wusste nicht, wie die Hölle war, aber ich ahnte, dass die Menschen sich vor ihr fürchteten und sich die schlimmsten Dinge ausmalten, die passierten, wenn sie einmal dorthin kamen. Ich war mir nicht sicher, ob es der Realität auch nur im Ansatz nahekam. Doch dann erinnerte ich mich kurz an den himmlischen Eingang zum Höllenreich und die Furcht, die mich heimgesucht hatte, als Gabriel mir befahl, zwei Tage darüber wachen. Ich war mir sicher, das war die echte und leibhaftige Hölle gewesen. Dieser Mensch hier kannte dieses Reich? Ich rief mir die Formel in Erinnerung, die er geschrien hatte, und durch die das riesige Ungeheuer besiegt worden war. Ich fragte mich, ob es eine Zauberformel der Götter war. Nach einigen Überlegungen ging ich davon aus, schließlich hatte er damit ein Monster des Höllenreiches unterworfen.
Langsam spürte ich die Kälte der Fliesen in meinem Rücken. Aber ich fror nicht wirklich, auch wenn meine Kleider ziemlich dünn waren. Ich fühlte die Wärme, die von dem jungen Mann ausging, von seinem Körper, der auf meinem lag. Immer noch sah er mich an, wirkte etwas verwundert und wartete auf meine Antwort. Ich sah tief in seine Augen. Sein Blick war stark und direkt. Kein bisschen Furcht war in ihrem gesprenkelten Grün zu erkennen. Ich lächelte ihn unwillkürlich an und bemerkte, dass ihn das mehr verunsicherte. Also antwortete ich ihm mit ruhiger Stimme: »Mein Name ist Yumi. Ich bin neu in der Stadt und dachte mir, ich schaue zuerst das Gotteshaus an, als ich dich hier liegen sah. Ich wollte dich nicht aufwecken, das tut mir leid.« 
Erst jetzt wog sein muskulöser Körper schwer auf mir. Ich versuchte, mich etwas abzustützen, aber es ging nicht. Er hielt meine Hände fest umklammert. Daraufhin sah ich ihn erneut an. »Kannst du vielleicht von mir runter gehen? Du bist ganz schön schwer.«
Der junge Mann schien kurz zu überlegen und wurde tatsächlich rot. »Gotteshaus? Was meinst du damit?« Er schaute sich immer noch auf mir liegend um. »Zur Hölle noch eins!«, fluchte er plötzlich los, »Ich bin in einer Kirche!?« Er sprang auf und lief Richtung Ausgang.
»Warte!« Ich wusste nicht, wieso ich das gesagt hatte, aber ich stand da und hatte ihn an seinem Ärmel gepackt. »Ähm ... also ...« Ich war ratlos, was ich sagen sollte, warum ich wollte, dass er blieb. Doch als er sich zu mir umdrehte, stolperte er überraschenderweise über eine der Stufen, die ich selbst überhaupt nicht gesehen hatte und er fiel.
»Oh nein! Hast du dir wehgetan?«, fragte ich besorgt und suchte nach irgendeiner Verletzung, nachdem ich herbeigeeilt war. Da entdeckte ich plötzlich ein wenig Blut an seinem Kinn und wollte es mir genauer ansehen, weil ich keine Schramme oder Ähnliches erkennen konnte. Der junge Mann meinte jedoch nur mit einer Handbewegung: »Mir geht es gut, aber ich muss an die frische Luft.« 
Ich ahnte, dass irgendetwas nicht stimmte. Als er aufstand und dem Ausgang näherkam, wusste ich, es würde etwas Schreckliches passieren, sobald er das Gotteshaus verließ. Ich stellte mich ihm in den Weg.
»Du kannst jetzt nicht rausgehen. Bitte glaub mir.«
Ich wollte so sehr, dass er mir glaubt. Doch was sollte ich ihm sagen, wenn er nach dem Grund fragte? Es war nicht mehr als ein Gefühl. Aber … ich musste ihn beschützen. Ich spürte es.
Er sah mich mit finsterem Blick an und ich fühlte, wie diese Kälte meinen Körper befiel. Aggressiv trat er mir entgegen: »Aus dem Weg! Ich muss dieses Haus verlassen. Ich darf nicht hier sein!«
»Jeder darf im Haus Gottes Schutz suchen.« Doch schon stürmte er an mir vorbei auf den Ausgang zu. Wie sollte ich ihn davon abbringen, hinauszugehen? 
»Bitte! Sag mir deinen Namen, bevor du gehst!«, rief ich noch und hoffte, er würde mir antworten. Falls meine Ahnung wahr wurde, würde ich seinen Namen auf der Liste wiederfinden, von der mir Gabriel einmal erzählt hatte. Ich musste seinen Namen ausradieren, das war meine einzige Chance, ihn zu beschützen.
»Mein Name geht dich nichts an, Gotteskind!«, rief er grob und stürmte hinaus. Es war wie ein Schlag. Ohne Namen konnte ich ihn nicht schützen. Wie sollte ich ihn wiederfinden?
Ich sah verletzt zu Boden, als ich da eine schwarze Feder wahrnahm, die ungewöhnlich leuchtete. Ich nahm sie neugierig auf und spürte, wie das dunkle Licht der Schwinge automatisch gegen mein inneres Strahlen anzukämpfen schien. Erschrocken ließ ich die Feder fallen und sah hinaus. Sie zeichneten locker verteilt den Weg nach, den er genommen hatte. Sofort stürzte ich hinaus und sah ihn im Vorhof auf dem Boden liegen. Er war zusammengebrochen.
»Ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht nach draußen gehen«, sagte ich beruhigt, dass er nicht viel weiter gekommen war, hockte mich neben ihn und legte meine Hand an seinen Kopf. Hoffentlich träumte er nicht wieder von der Hölle.
»Was ist passiert, junges Fräulein!?«, hörte ich plötzlich einen alten Mann aufgeregt rufen, der seine Sachen fallen ließ und auf uns beide zugeeilt kam. Er hievte ihn schneller hoch, als ich antworten konnte. »Ob er einen Sonnenstich hat? Das wäre bei dieser Hitze wirklich kein Wunder? Der arme Junge. Ich werde ihn in die Kirche bringen. Kannst du vielleicht meine Bücher aufheben und für mich tragen, liebes Kind?«
Der Mann lief mit ihm zurück in das Gotteshaus. Es war schön, zu sehen, dass die Menschen noch so etwas wie Nächstenliebe empfanden. Ich nahm die Bände auf und folgte dem Priester hinein. Seine Bibel und ein weiteres Buch, das sich mit der Geschichte der Erzengel befasste. Ich war neugierig, was wohl in einem von Menschenhand geschriebenen Schriftstück über Gabriel stand. Ob sie wussten, wie wunderschön er war?
»Liebes!«, rief er mich plötzlich und ich verließ meine Gedanken. Ich eilte zu ihnen. Er hatte den jungen Mann auf eine der Bänke gelegt und etwas Abstand genommen. Anscheinend wirkte ich nicht sonderlich überrascht, als ich die schwarzen Federn entdeckte, die aus heiterem Himmel um ihn herum erschienen waren. Dem Priester schien das Angst zu machen. Ich dagegen hatte geahnt, dass es seine Federn sein mussten.
»Geh nicht zu nah ran, Liebes«, warnte er, doch ich hatte ihm bereits meine Hand auf die Stirn gelegt. Ich wollte es wissen. War er mit seinen Gedanken wieder im Höllenreich? Er begann zu zittern und sein Gesicht wurde bleich. Ich erinnerte mich erschrocken an seine Worte, dass er nicht hier sein dürfe, und verstand erst jetzt, dass das Gotteshaus ihm das antat. Hektisch sah ich zu dem Priester, der nicht wusste, was geschah.
»Können Sie mir Wasser holen?«, fragte ich und er nickte leicht, tat aber keinen Schritt. »Bitte! Ich muss es jetzt haben!«, drängte ich und er eilte in die hinteren Räume der Kirche. Ich sah meine Chance, hievte ihn hoch, soweit ich das bewerkstelligen konnte, und versuchte, den Ausgang zu erreichen. Wie konnte es sein, dass ein Gotteshaus jemandem schadete? Das durfte nicht sein! Selbst beschmutzten Menschen war das Betreten des Gotteshauses gestattet und waren von ihren Sünden befreit, sofern Gott es erlaubte.
»Entschuldige Gabriel. Aber es ist ein Notfall«, sagte ich und streckte meine Flügel aus. Ich wusste, er würde es nicht mitbekommen und so schwang ich mich mit ihm in die Lüfte. Meine Schwingen waren stark genug, uns beide zu tragen. Aus der Höhe entdeckte ich einen abgelegenen Park mit einem See und nahm Kurs. Bitte, er musste es schaffen. Ich musste ihn zum Wasser bringen.
Am See angelangt legte ich ihn erst einmal auf den Boden. Ich war es doch nicht gewohnt, zwei Körper zu fliegen. Es hatte einiges an Anstrengung gekostet. Meine Flügel zogen sich zurück und ich stieg ins Wasser. Es war kalt und ich kühlte mit meinem Rockzipfel sein Gesicht. Es wirkte irgendwie rußig, dabei war im Gotteshaus kein bisschen Dreck und in den Wolken war auch alles sauber. Ich fragte mich, woher das kam. Aber als ich sah, dass sein Gesicht wieder Farbe bekam, ließ ich von dem Gedanken ab, hangelte mich auf dem Steg hoch und legte seinen Kopf auf meinen Schoß. Er sah sehr müde aus. Sant streichelte ich über seine Schläfen, ehe ich meine Hand erneut auf seine Stirn legte. Seine Gedanken waren ruhig und ich spürte keinen einzigen an die Hölle. Weiter tauchte ich mit meinen eigenen ab, und ehe ich mich versah, waren ein paar Stunden vergangen. Das Abendrot zierte den Himmel und ich bemerkte, wie er langsam zu sich kam.

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