Schwäche

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Kapitel 11 | Yumi

- Schwäche -

Mein Kopf dröhnte vor lauter Schmerzen und Kummer, als ich im Schatten eines Baumes zu mir kam. Neben mir lag Taen Rawen, der mich scheinbar keinen Moment aus den Augen gelassen hatte. Jetzt schien er jedoch zu schlafen, denn seine Lider waren geschlossen und ein leichtes Schnarchen war von seiner Seite zu hören. Er hatte den Kopf auf seine Hand gestützt und lag seitlich in meine Richtung. Ich lächelte kurz über seinen entspannten Gesichtsausdruck, richtete mich danach aber auf und fasste mir an den schmerzenden Hinterkopf. Ich erinnerte mich nicht, wieso er so weh tat. In meinem tiefsten Innern spürte ich allerdings, dass etwas anders an mir war als zuvor. Etwas fehlte und als ich aufstand, wirkte es fast so, als könnte ich für den ersten Augenblick mein Gleichgewicht nicht halten. Ich nahm Abstand von ihm, damit ich, für den Fall, dass ich doch hinfiel, nicht auf ihm landete und ihm noch wehtat.
Neugierig blickte ich mich um. Wir befanden uns im Park, an diesem See und alles war grün. Wie den letzten Morgen auch, als ich aufgewacht war und dieses seltsame Geräusch gehört hatte. Ich versuchte, mich daran zurückzuerinnern, was geschehen war, aber irgendetwas blockierte meine Gedanken.
Ich schaute an mir herunter und sah Blut. Mein Blut? Einen Schmerz hämmerte in meinem Kopf. Ich konnte keine Wunde entdecken. Doch mein Herz spürte es. Irgendwo in mir befand sich ein Loch - ein großes Loch - das gestern noch gefüllt war. Man hatte mir etwas Wichtiges genommen und ich erinnerte mich nicht daran. Es schmerzt viel mehr, es nicht zu wissen, dachte ich.
Ich schaute kurz zurück zu Taen Rawen, der vor sich hin schnarchte. Ein leises Kichern entfloh mir, ehe ich zum See lief, mich auf den Steg setzte und meine Beine über das Wasser baumeln ließ. Wasser. Irgendetwas schien sich in mir zu regen, als meine nackten Füße die Oberfläche nur leicht berührten und plötzlich schmerzte mein Kopf so sehr, dass ich das Gleichgewicht verlor und in den See stürzte.
Ich ruderte wie wild mit den Armen und schlug große Wellen, die mich unter die Wasseroberfläche drückten und ich fühlte die vergessene Angst in meinen Gliedern, nie wieder aufzutauchen. Ich schrie, schluckte Wasser und spürte das Brennen in meinen Lungen. Warum kam mir das so bekannt vor? Wieso schmerzte mein Kopf so, wenn ich mich versuchte, daran zu erinnern? Ich verstand es nicht. Ein schwarzes Leuchten erschien am Grunde des Sees und ich schrie entsetzlich laut, doch unter der Wasseroberfläche verstummte meine Stimme nur in einem tiefen Blubbern. Ich ruderte an die Oberfläche und riss meine Hand in die Höhe, als jemand sie ergriff und mich aus dem Wasser zog. Hustend und Seewasser spuckend ließ ich mich auf den Boden des Steges sinken. Was war nur mit mir los? Was geschah mit mir? Wieso konnte ich die Kontrolle über meinen Körper und meinen Geist nicht wiedererlangen? Ich war so durcheinander, dass ich nicht einmal bemerkte, wer mich gerade aus dem Wasser gezogen hatte und nun vor mir hockte. Als er mir jedoch seinen Trenchcoat um die Schultern legte, musste ich ihn ansehen. Taen Rawen. Er hatte mich schon wieder gerettet.
»Du solltest schwimmen lernen«, sagte er mit vorwurfsvoller Stimme zu mir. Etwas in mir begann zu bröckeln, als mir bewusst wurde, dass ich nicht viel mehr als eine Last für ihn war. Ich nickte niedergeschlagen und blickte zu Boden. Das Wasser tropfte durch die Spalten zwischen den Planken und ich wollte einfach nur zurück ins Gotteshaus, um so schnell wie möglich zu Gabriel ins Himmelreich zurückzukehren. Ich versuchte, meine Stimme zu heben und etwas zu sagen. Stattdessen hatte sich ein dicker Kloß in meiner Kehle festgesetzt, den ich nicht wagte, zu überwinden.
Erst jetzt bemerkte ich, dass er etwas in der Hand hielt und in dem Moment, als ich es erkannte, legte er es um meinen Hals. Es war Gabriels Amulett. Ich wollte mich daran erinnern, wieso ich es nicht bei mir trug. Mein Kopf schmerzte und ich beließ es dabei, dass es besser war, es nicht zu wissen.
»Lauf mir nicht immer davon, sonst kann ich dich nicht beschützen«, knurrte er sichtlich verärgert und ich nickte kleinlaut. Aber wann war ich ihm davon gelaufen? Selbst hier ließ der Schmerz keinen Gedanken an das Vergangene zu, sodass ich nichts weiter darüber wusste. Bemüht, mir zu sagen, dass es gut so war, nickte ich noch einmal. Doch innerlich zerriss es mich. Schließlich wagte ich mich vor und sah ihn direkt an. Ich sammelte meine Stimme und begann den Kampf gegen den Kloß in meinem Hals: »Sollen … wir zur Kirche geh…en?« 
Ich hatte Mühe, geradezustehen, und spürte, dass mein Gleichgewicht immer noch nicht vollständig zu mir zurückgekehrt war. Er streichelte mir sanft über den Kopf, lächelte mich dabei an. Sein Ärger war offenbar verflogen. Ich konnte mich nicht erinnern, je ein Lächeln in seinem Gesichtsausdruck wahrgenommen zu haben. »Du musst doch erst mal wieder trocken werden. So können wir nicht durch die Stadt laufen.«
Ich sah an mir herunter. Mein Kleid war vollkommen durchnässt. Ich nickte erneut und wies mit meinem rechten Arm hinüber zu dem Baum, unter dem wir bis heute Morgen noch gelegen hatten. »Gehen wir so lange da hin?«
Er packte mich grob am Arm, um mich hinter sich herzuziehen. Ich hatte das Gefühl, er wusste es nicht besser. Auch wenn es etwas wehtat, war es kein Schmerz, den ich nicht verkraften konnte. Er war schließlich nicht beabsichtigt.
Taen Rawen setzte sich direkt unter den Baum in den Schatten und wies mir einen nahen Platz neben ihm zu, der jedoch im Gegensatz zu seinem in der Sonne war, damit meine Kleider trockneten. »Du solltest dein Kleid ausziehen und in die Sonne hängen«, sagte er und wies gleichzeitig auf seinen Mantel, »Zieh den über! Sonst erkältest du dich.«
Ich nickte, drehte ihm den Rücken zu, lief zu einem Ast und hing mein Kleid darauf. Bevor ich mich umwandte, knöpfte ich noch die obersten Knöpfe zu und kehrte zurück auf den Sonnenplatz, den er mir empfohlen hatte. Ich setzte mich neben ihn und sah ihn erwartungsvoll an.
»Zumindest bist du jetzt wieder sauber. Warum bist du auch alleine losgezogen?«, fragte er erneut in einem vorwurfsvollen Ton. Ich sah ihn nur an. Was meinte er damit? Ja, ich erinnerte mich an das Blut, das ich gesehen hatte. Mein Kleid schien weiß, aber … wessen Blut war das gewesen? Und wieso war es an meiner Kleidung? 
Die Schmerzen rasten durch meinen Schädel und ich stöhnte qualvoll, während ich meine Hände an meinen Kopf schlug, um die Qualen zu verbannen. Es gelang mir nicht. Es fühlte sich an, als stünde meine Haut in Flammen. Mir wurde schwarz vor Augen und alles schien sich im Kreise zu drehen. 
»Gabriel!«, schrie ich zum Himmel, Finsternis breitete sich vor meinen Augen aus, sie verschlang alles Sichtbare. Mein Körper kribbelte. Nur die Wärme seiner großen Hände drang zu mir durch. Hatte Gabriel auch solch warme Hände wie er?

Auch Engel dürfen träumenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt