Manchmal schien es gar nicht so schwer zu sein, Menschen glücklich zu machen. Das verwunderte mich. Vater war selten glücklich mit mir gewesen. Ich hatte so oft etwas falsch gemacht, auch wenn ich manchmal gar nicht wusste, was falsch gewesen war. Trotzdem hatte er viel zu oft Gründe gefunden, mich zu bestrafen. Aber die Menschen hier?
Nachdem ich genickt hatte, zog ich schnell meinen Kopf ein und wartete bangend darauf, was passieren würde. Aber es passierte nichts. Im Gegenteil. Sie sahen alle glücklich aus. Sarah hüpfte sogar auf meinem Bett herum, obwohl das nicht erlaubt war. Aber ich traute mich nicht, ihr das zu sagen, denn Vaters Gesicht war so fröhlich, als würde es ihn gar nicht stören, dass Sarah etwas Verbotenes tat. Nur Mama ermahnte sie, dass sie aufpassen solle, mich nicht aus Versehen zu treffen.
Obwohl ich nicht wirklich verstand, warum sie sich alle so über meine Antwort freuten, machte es sogar mich ein bisschen glücklich. Zumindest erleichterte es mich sehr. Offensichtlich hatte ich keinen Fehler gemacht und das war alles, was für mich im Moment zählte. Ich hatte nämlich doch ein wenig Angst vor den Folgen meiner Entscheidung. Würde ich es schaffen, brav zu sein, wenn wir alle zusammen aßen? Oder würde ich Vater einen Grund geben, mich zu bestrafen? Auch wenn er gesagt hatte, dass er mir nicht wehtun würde, schaffte ich es immer noch nicht, darauf zu vertrauen. In meinem ganzen Leben war ich noch nie nicht für einen Fehler bestraft worden. Außerdem hatte Vater gesagt, dass mein neuer Vater sich ein gehorsames Mädchen wünschte und sehr wütend wäre, wenn ich nicht brav war. Deshalb war es für mich schwer zu glauben, dass mein neuer Vater mich nicht bestrafen würde.
Aber für den Moment versuchte ich, die Sorge von mir zu schieben. Mama hatte gesagt, dass wir das mit dem gemeinsamen Essen erst machen würden, wenn es mir besser ging. Vielleicht dauerte das ja noch eine Weile? Denn bisher ging es mir sehr schlecht.
Nachdem Sarah sich beruhigt hatte, kuschelte sie sich wieder zu mir und schlug das Bilderbuch an der Stelle auf, an der wir aufgehört hatten.
„Bald machen wir das auch mal zusammen." Sie strahlte über das ganze Gesicht und zeigte noch einmal auf das Bild, bei dem wir eben aufgehört hatten.
Zurückhaltend nickte ich, denn ich konnte sehen, wie sehr sie sich zu freuen schien. Sarah lachte fröhlich, dann blätterte sie die Seite um. Wieder erzählte sie alles Mögliche zu den Bildern und ich konnte nicht fassen, dass sie all das tatsächlich schon erlebt hatte! Sie war doch noch so klein. Viel kleiner als ich. Wie war das möglich?
Sie erzählte zum Beispiel von etwas, das Schaukel hieß. Man konnte sich darauf setzen und vor und zurück schaukeln. Es sah gefährlich aus, aber Sarah meinte, dass es das nicht sei. Sie hatte es schon oft gemacht und es würde sehr viel Spaß machen.
Sarah wollte mich mal zu etwas mitnehmen, das sich Spielplatz nannte. Dann könnten wir zusammen schaukeln. Ich nickte nur schüchtern, denn ich wollte Vater nicht zeigen, dass ich Angst vor der Schaukel hatte. Er sollte nicht glauben, dass ich ein dummes, ängstliches Kind war. Ich konnte auch groß und mutig sein.
Als Sarah ein weiteres Mal umblätterte, waren wir bei der Seite angekommen, die mich bereits letztes Mal unbehaglich hatte innehalten lassen, als ich das Buch mit Julia angesehen hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich jedoch nicht getraut, mit anderen Menschen zu sprechen. Inzwischen wusste ich, dass es – so verrückt und unglaublich das auch war – erlaubt war. Also nahm ich noch einmal all meinen Mut zusammen und hob meinen Blick von dem Bild, das die beiden Kinder in einer Wanne zeigte, wo sie von der Frau, die auch Mama hieß, gewaschen wurden.
Bevor ich mit dem Sprechen begann, überlegte ich mir meine Worte gut. Denn ich stotterte viel zu häufig, seit ich mit allen Menschen sprechen durfte. Das verunsicherte mich einfach so sehr! Aber stottern war ein Zeichen von Dummheit und Vater sollte nicht glauben, dass ich dumm war.
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Lost Girl
Mystery / ThrillerEin Mädchen. Gefunden im Wald. Verletzt und gefesselt. Wer ist sie? Woher kommt sie? Wieso spricht sie kein Wort? Und warum scheint sie vor allem und jedem panische Angst zu haben? ------------------------------------------------- Triggerwarnung:...