Don't judge a book by its cover

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Gedankenspaziergang von Alina

Täglich erblicken wir neue Gesichter auf unseren Wegen durch den Alltag. Wir sehen die verschiedensten Ausführungen unserer geschätzten und doch fraglichen Individualität. Unser Blick schweift von blonden Haaren hinüber zu braunen und schwarzen Haaren, von einem freundlichen Lächeln bis hin zu einem schüchternen Blick in das scheinbar endlose Nichts. Einige Gesichter bleiben uns länger im Gedächtnis, als andere. Da ist zum Beispiel dieses eine besonders freundliche Lächeln der Person oder die ganz auffälligen blauen Haare, über die wir auch nach einigen Minuten noch immer nachdenken. Wir schauen in so viele Gesichter, ohne uns Gedanken darüber zu machen, welche Person sich dahinter verbirgt. In unserem Kopf fangen wir an, das Gesehene zu sortieren. Wir differenzieren unter anderem zwischen jung und alt, weiße Hautfarbe oder dunkelhäutig und natürlich das Geschlecht. Die unendlichen Möglichkeiten einer äußerlichen Erscheinung von uns Menschen erschwert es uns, diese auf die Schnelle zuzuordnen, die uns begegnen. Auch wenn wir das nicht immer bewusst steuern, bilden wir in unseren Kopf Schubläden, in denen wir erst Mal alles sortieren, was wir wahrgenommen haben, wenn auch nur kurzzeitig.
Einen Menschen anzuschauen ist in gewisser Hinsicht vergleichbar mit dem Blick auf ein Buch. Wir sehen einen Titel und ein Bild, durch das wir versuchen, den Titel zu interpretieren. Doch auch wenn man häufig glaubt, anhand der auf dem Buchcover gegebenen Informationen zu wissen, worum es in der Geschichte gehen wird, schaut man nur auf eine äußere Fassade. Fängt man an, dieses Buch wirklich zu lesen, versteht man meistens erst, worum es wirklich geht. Um das Buch und die darin erzählte Geschichte zu verstehen, muss es bis zum Ende gelesen werden. Dabei darf man das nicht übersehen, was ungeschrieben zwischen den Zeilen zu finden ist. Erst wenn alle Details aufgedeckt und verstanden wurden, macht die Geschichte am Ende auch einen Sinn und gibt uns etwas Neues mit auf den Weg.
Wir Menschen bestehen zwar nicht in diesem Sinne aus so vielen verschiedenen Seiten und Worten, aber auch wir haben eine Geschichte tief in uns verborgen. Eine Geschichte, die niemals komplett erzählt wird. Eine Geschichte, die niemand jemals so kennen kann, wie man selbst. Eine Geschichte, die es ganz genauso kein zweites Mal geben kann. Die Geschichte, die jeder von uns mit sich trägt, besteht aus all den Momenten, die wir erlebt haben, die wir Gefühlt und gesehen haben. Wir müssen uns dabei nicht an all diese Momente und Gefühle erinnern, damit sie zum Teil von uns werden. Jeder Moment, jedes Gefühl, was je in uns hervorgerufen wird, ist ein Teil von uns und macht uns zu dem, was wir sind: Menschen mit Individualität.
Wenn so viel Individualität aufeinander trifft, wie es in unserer Gesellschaft der Fall ist, gibt es verschiedene Möglichkeiten damit umzugehen. Leider neigt unsere Gesellschaft dazu, die Individualität als Problem anzusehen. Wir zwingen uns gegenseitig dazu, irgendwie alle gleich zu sein, ohne jedoch dabei einem anderen sein Selbstbild zu stehlen, denn jeder will auch irgendwo was Besonderes sein. Außergewöhnliche Hobbies, Vorlieben, Kleidungsstile oder Ansichten werden nur selten mit offenen Armen begrüßt. Dabei ist es doch eigentlich so unglaublich schön, wenn man anders ist, als der Durchschnitt. Anders sein, bedeutet aber auch gleichzeitig mutig zu sein. Dass man sich zu jeder Zeit so offenbart, wie man wirklich ist. Ich kenne keinen einzigen Menschen, der das wirklich schafft. Aber das Problem dabei liegt nicht an unserem fehlenden Mut, sondern an der fehlenden Toleranz in unserem System. Es beginnt schon früh damit, dass in der Schule versucht wird, einen Menschen aus einem zu machen, der man einfach nicht ist. Dinge, die für uns nicht wichtig erscheinen, werden mit aller Kraft in unsere Köpfe gedrängt und die Dinge, die für uns wichtig sind, verlieren an Wert. Es gibt immer Menschen im Leben, die versuchen einen zu verformen. Egal ob in der Schule, auf der Arbeit, im Freundeskreis oder sogar in der eigenen Familie.
Man hört immer wieder, dass es an einem selbst liegt, wie sehr man sich verbiegen lässt. Niemand würde einen schließlich dazu zwingen sich zu verändern, sich anzupassen. Aber entspricht das wirklich der Realität? Objektiv betrachtet würde ich dem zustimmen. Man hat in der Theorie immer die Wahl man selbst zu sein oder sich eben doch der Norm anzupassen. Subjektiv betrachtet, eröffnet sich aber eine ganz andere Perspektive.
Angenommen man zeigt sich in der Schule, auf der Arbeit, in der Familie oder im Freundeskreis so, wie man wirklich ist, ohne sich für eine falsche „Perfektheit" zu verstellen. Entspricht dieses Selbstbild nicht der Norm, wie hoch ist dann die Chance, dass man trotzdem wirklich ehrlich akzeptiert und geschätzt wird? Und damit meine ich nicht, dass man auf Grund eines positiven Nutzens für die Gruppe toleriert wird, sondern wirklich die Persönlichkeit in einem so geschätzt und akzeptiert wird, wie sie ist, weil sie eben so ist, wie sie ist. Man beachte hierbei den Unterschied zwischen Toleranz und Akzeptanz. Nur weil jemand in einer Gruppe toleriert wird, bedeutet dies nicht gleichzeitig auch Akzeptanz. Ein Mensch kann toleriert werden, also seine Existenz oder seine Anwesenheit in Ordnung gefunden werden, aber gleichzeitig kann die Anwesenheit oder Existenz dieser Person für nicht gut gefunden werden, also nicht akzeptiert sein. Man will also sagen „Hey es ist von mir aus ok, dass du da bist, aber ich finde es dennoch nicht gut".
Gerade im Zeitalter der sozialen Medien, die uns eine falsche Realität vom Leben und der Wichtigkeit verschiedener Dinge vermittelt, sind Akzeptanz und Toleranz schon fast Fremdworte. Vor allem in den jüngeren Generationen findet das Leben schon lange nicht mehr in der echten Wirklichkeit statt. Die sozialen Medien bestimmen, welcher Kleidungsstil in Ordnung ist, was man mögen oder nicht mögen soll und liefern unzählige Beispiele für ein scheinbar perfektes Leben, ein perfektes Dasein in Form von teils international bekannten Influencern, die ihr Leben und ihre Ansichten mit der Welt teilen. Aber ist die Meinung einer anderen Person wichtiger, weil sie im Gegensatz zu der eigenen Meinung millionenfach gesehen, geteilt und geliked wird? Manchmal vergessen wir, dass hinter den Influencern auch ganz normale Menschen stecken. Auch sie haben, genau wie wir, eine Geschichte in sich. Auch sie sind einen Weg gegangen, der sie zu dem gemacht hat, was sie heute sind. Nicht immer entspricht das, was man Online von einer Person sehen kann auch dem, was hinter den Kulissen der Realität entspricht. Eigentlich ist das nie der Fall, denn wie bereits erwähnt, sind auch sie ganz normale Menschen.
Die Welt der sozialen Medien ist ein großes Paradoxon. Auf der einen Seite vermittelt sie ein falsches Bild von unserer Individualität. Denn häufig möchte sie uns zeigen, wie wir sein sollen, um gut genug und alle gleichermaßen perfekt zu sein. Doch auf der anderen Seite ruft sie dazu auf, seine eigenen Ansichten zu teilen und zu verfolgen, seine Besonderheit auszuleben und wirklich der zu sein, der man vom Herzen ist. Erst durch die sozialen Medien ist zum Beispiel die LGBT- Szene (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender) richtig zum Leben erwacht. Sie erlaubt es diesen Menschen, sich zu zeigen, zu sich zu stehen und damit nicht alleine zu sein. Aber gleichzeitig gibt sie der Gegenseite den Raum, um gegen diese Szene Hass zu verbreiten und Unverständnis zu zeigen.
Viele Menschen können nicht verstehen, warum man das gleiche Geschlecht liebt, warum man aus anderen Ländern nach Deutschland kommt und versucht, hier ein Leben aufzubauen oder warum man nicht die gleichen Ansichten teilt, wie die meisten anderen auch. Mir stellt sich hingegen eher die Frage, warum man sich am Leben anderer so stört. Es tut uns doch eigentlich überhaupt nicht weh, wenn eine andere Person das gleiche Geschlecht liebt, wenn ein Junge für sein Leben gern Ballett tanzt und ein Mädchen sich weigert, Kleider zu tragen. Wir machen uns das Leben unbequem dadurch, dass wir unnötigen Hass verbreiten. Aber das Schlimmste daran ist meiner Meinung nach, dass wir Personen verurteilen, ohne auch wirklich beurteilen zu können. Wer erlaubt es uns, ein Urteil über jemanden zu fällen, dessen Weg wir nicht gesehen haben. Wir verstehen vielleicht nicht, warum jemand so handelt, wie er handelt. Aber müssen wir das immer, um zu akzeptieren, was er tut und fühlt?
Wir verurteilen aus unseren Erfahrungen heraus. Wir glauben nur anhand der äußeren Erscheinung einer Person sagen zu können, ob wir dem Wohlstand oder Armut gegenüberstehen. Anhand der ersten gesprochenen Worte urteilen wir über Intelligenz oder Unwissenheit. Anhand der Körperhaltung differenzieren wir zwischen wohl erzogen oder schlechte Manieren. Der erste Eindruck einer Person ist für uns ausschlaggebend darüber, ob wir die Person länger beachten oder einfach ignorieren, sofern dies denn möglich ist. Ich formuliere das Thema urteilen so, als wäre es etwas Schlechtes. Es ist eine Frage der Perspektive, ob das der Wahrheit entspricht.
Würden wir nicht über andere Menschen urteilen, würden wir auch nicht über wirklich schlechte Menschen urteilen und vermutlich häufiger in Gefahr geraten. Urteilen ist für uns also auch das Erkennen von potenziellen Gefahren oder eben andererseits auch von sicheren Wegen. Wir brauchen das Urteilen, um uns selbst beschützen zu können. Aber wir brauchen nicht jede Art von Verurteilung, die uns täglich begegnet, die wir teils selbst bewusst und unbewusst durchführen. Sie unterscheidet sich in der Absicht, die dahintersteckt. Verurteilt man den Menschen gerade, um zu entscheiden, wie sehr er einen selbst verändern darf? Versuchen wir einen eigenen Nutzen aus der Interaktion mit ihm zu ziehen? Oder kann es uns eigentlich auch völlig egal sein, wer uns gegenübersteht, weil die Person ohnehin keine Rolle für uns spielen wird? Wenn wir ehrlich zu uns sind, spielen nur die wenigstens Menschen eine Rolle in unserem Leben. Warum also verbrauchen wir so viel unserer kostbaren Zeit dafür, andere Menschen zu verurteilen? Wenn wir uns schon die Zeit nehmen, zu urteilen, können wir auch noch etwas Zeit dafür einplanen, einen Menschen zu verstehen, um wirklich beurteilen zu können, was wir eigentlich verurteilen.
Das faszinierende am Urteilen ist meiner Meinung nach, dass wir nicht nur über das Verhalten von anderen Menschen urteilen, sondern auch unser eigenes Verhalten und Denken in Frage stellen. Auch hierbei handelt es sich um eine wichtige Form des Verurteilens, denn diese ermöglicht es uns, uns selbst zu reflektieren und aus negativen Situationen und unseren Fehlern zu lernen. Würden wir uns selbst nicht verurteilen, würden wir immer wieder dieselben Fehler machen. Zu einem Nachteil wird die Verurteilung seines Selbst jedoch dann, wenn man mit sich nicht im Reinen ist. Hat man mit sich selbst ein Problem, wird man nie positiv über sich urteilen können. Erfolge werden als nicht gut genug eingestuft und die eigenen Fehler viel härter bestraft, als es eigentlich nötig wäre. Man wird zu seinem größten Feind, einem Feind, dem man nicht entkommen kann.
Man kann erst mit sich selbst im Reinen sein, wenn man weiß, wer man eigentlich ist. Wer bin ich und was macht mich eigentlich aus? Es sind nicht die eigenen Interessen oder Hobbies, die einen zu dem machen, der man ist. Es ist die eigene Geschichte und die eigene Interpretation dessen, die uns ausmacht. Natürlich kommt es dabei immer darauf an, wie man das Geschehene mit in die Gegenwart und Zukunft nimmt. Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich schlechtes erfahren habe? Nicht zwingend, denn es kommt darauf an, wie ich das schlechte verarbeite und was ich daraus mache. Auch wenn ich in meiner Vergangenheit Gewalt erfahren habe, muss ich kein gewaltbereiter Mensch sein. Ich kann die Wut darüber entweder an andere Menschen weitergeben oder die Energie in andere, positive Dinge investieren und was völlig Neues draus machen. Das ist eine Entscheidung die jeder für sich treffen muss und sollte. Das sind die Dinge, die uns ausmachen, die in uns eine Persönlichkeit formen. Entscheiden wir uns dafür, ein guter Mensch zu sein oder geben wir das Negative weiter, was wir durch andere erfahren haben, auch wenn das bedeutet, dass wir eigens erfahrenen Schmerz an Dritte weitergeben.
Das ist der Grund, warum man auch die Täter nicht immer für ihre Taten vorschnell verurteilen sollte. Ein gutes Beispiel ist hierfür das Mobbing in der Schule, wo auch ich langjährige Erfahrungen gemacht habe. Lange Zeit habe ich den Täter für seine Taten verabscheut und habe lange nicht verstanden, warum er das tut. Ich habe den Fehler bei mir gesucht und erst im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass ich da an der falschen Stelle gesucht hab. Im Laufe der Jahre habe ich einiges über den Täter erfahren können und hab nach und nach zumindest zum Teil verstanden, warum er so handelt, wie er handelt. Es hat es zwar weder rückgängig, noch für mich oder all seine anderen Opfer erträglicher gemacht, aber es hat mir geholfen zu verstehen, dass es nicht an mir lag. Ich habe zu dem Zeitpunkt völlig außer Acht gelassen, dass auch er eine Geschichte hat, einen Weg gegangen ist, Erfahrungen gemacht hat und Dinge gefühlt hat, die ihm zu dem machen, was er ist. Wenn ich heute an diese Zeit zurück denke, ist es Gewiss immer noch kein schönes Gefühl, aber ich spüre keinen Hass mehr ihm gegenüber. Ich glaube sogar sagen zu können, dass ich bereit wäre, das Geschehene zu verzeihen.

Wir können natürlich nicht anfangen, jeden Menschen, der uns im Alltag so begegnet, bis ins kleinste Detail verstehen zu wollen. Doch eventuell würde es die Welt schon zu einem freundlicheren Ort machen, wenn wir erst anfangen einen Menschen zu verurteilen, wenn wir auch in der Lage sind, den verurteilten Aspekt zu beurteilen. Manchmal ist es eventuell doch gar nicht so verkehrt ein ungelesenes Buch zu öffnen und seine Geschichte zu entdecken, auch wenn das Cover uns merkwürdig erscheint. Denn wie es im Titel meines Textes heißt: Don't judge a book by its cover" (zu Deutsch: Verurteile ein Buch nicht nach seinem Einband).

Don't judge a book by its coverWo Geschichten leben. Entdecke jetzt