Tag für Tag und Nacht für Nacht

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Es war kurz vor Mitternacht, als Odetta Williams schnellen Schrittes durch die Gänge des dritten Stocks lief. Nur vereinzelt brannten Kerzen, das meiste Licht spendete der Vollmond, der durch die Fenster schien.
Odetta huschte um eine Ecke – und lief prompt in Severus Snape hinein.
„Fuck!", fluchte sie, als ihr klar wurde, dass der Meister der Zaubertränke sie bei ihrem Ausflug erwischt hatte.
Snape hob leicht eine Augenbraue und fragte:
„Miss Williams, warum wandeln Sie des Nachts durch die Gänge?"
Oje, dachte Odetta, er redet schon wieder, als hätte er einen alten Schriftgelehrten verschluckt. Sie sah sich um und suchte fieberhaft nach einer Ausrede. Da fiel ihr Blick auf den Vollmond.
„Der Mond ist schuld!"
In einer theatralischen Geste streckte sie die Hand zum Mond aus und rief pathetisch:
„O böser Feind, der du ins Blut mir fährst und den Schlaf mir raubst! Verberge dein Antlitz vor mir und quäle mich nicht länger mit deinem Lichte!" Und mit normaler Stimme fuhr sie fort:
„Denn sonst krieg ich Ärger mit Professor Snape und muss Strafarbeiten machen!"
Sie warf sich bäuchlings vor Snape zu Boden, einen Arm nach vorne ausgestreckt, bog den Oberkörper nach hinten, legte den Kopf in den Nacken und den Handrücken ihrer anderen Hand auf die Stirn und rief:
„Oh weh mir!"
Dann blinzelte sie hoch zu Snape. Spielte da ein kleines, ein ganz winziges Lächeln um seine Mundwinkel?
Snape bückte sich, fasste sie am Arm und half Odetta, aufzustehen.
„Beeindruckend", sagte er lakonisch, „und jetzt die Wahrheit!"
Odetta seufzte. Die Wahrheit ...

Sie ging zum Fenster und sah hinaus. Die Wahrheit ...
„Glauben Sie, dass es wirklich vorbei ist?", fragte sie nach einer Weile.
„Selbstverständlich. Der dunkle Lord ist tot, ebenso wie die meisten Todesser. Und die, die noch leben, sitzen in Askaban. Ja, es ist vorbei."
„Ich glaube das nicht. Es ging alles einfach viel zu glatt. Viel zu schnell. Ich meine, sieben Jahre! Sieben gottverdammte Jahre! So viel Leid, so viel Tod. Und dann reicht ein kleiner Zauber eines mittelmäßig begabten Teenagers, und alles soll vorbei sein?"
Sie zögerte eine Weile, dann fuhr sie fort:
„Wissen Sie, wenn ich ein böser Zauberer wäre, dann würde ich doch Vorsichtsmaßnahmen treffen für den Fall, dass ich im Kampf unterliege. Auch, wenn ich nicht daran glaube. Ich würde ... ach, ich weiß auch nicht ... doch! Ich würde eine Art Eliteeinheit gründen, deren Aufgabe es wäre, mich zu rächen und mein Werk fortzusetzen. Nicht sofort, erst, wenn eine Weile vergangen ist, wenn alle glauben, sie wären in Sicherheit. Wenn alle der Überzeugung sind, dass es vorbei ist."
Snape schwieg.
Als Odetta weitersprach, war ihre Stimme nur noch ein Flüstern:
„Aber wenn ich kleine Göre das schon weiß, dann hat Voldemort, der so viel klüger war als ich, das doch schon lange gewusst. Und ... diese Eliteeinheit ... sie würde aus Leuten bestehen, die niemals jemand verdächtigen würde. Aus Leuten, die vielleicht sogar, zum Schein, ganz erbittert gegen mich gekämpft haben. Ich meine ... jeder könnte es sein. Professor Flitwick, Professor McGonagall, Mrs. Weasley, Hermine, jeder!"
Bei ihren letzten Worten trat Snape hinter sie und legte, leichten Druck ausübend, eine Hand zwischen Odettas Schulterblätter.
„Ich!", sagte er mit düsterer Stimme.
„Oder ich!", erwiderte Odetta.
Snape verstärkte den Druck seiner Hand und Odetta musste sich am Fensterrahmen festhalten, um nicht aus dem Fenster zu fallen.
„Haben Sie mit jemandem darüber gesprochen?"
Odetta schüttelte den Kopf.
„Mit wem könnte ich denn darüber sprechen? Jeder ist verdächtig, jeder könnte es sein. Und wenn ich mich der falschen Person anvertraue, wer weiß, was die dann mit mir machen würde!"
„Ja, wer weiß", sagte Snape und nahm die Hand weg. Odetta drehte sich um und sah ihn an.
„Und wer würde mir schon glauben?"
„Niemand!", gab Snape zu.

Odetta nickte. Eine Minute sahen die beiden sich einfach schweigend an, dann wandte Odetta sich wieder zum Fenster, blickte in die Nacht hinaus und murmelte:
„Sie sind irgendwo da draußen. Und sie werden kommen. Vielleicht nicht heute, vielleicht nicht morgen, aber irgendwann. Und dann müssen wir bereit sein."
Erneut drehte sie sich zu Snape um und sagte:
„Und genau deshalb bin ich hier nachts unterwegs. Ich war auf dem Weg zum Südturm, um wache zu halten. Jemand muss Wache halten, um die Leute hier rechtzeitig warnen zu können."
Snape antwortete nicht.
„Sie halten mich für paranoid, nicht wahr?", fragte Odetta.
Snape bohrte seinen Blick in ihren, dann schüttelte er den Kopf.
„Nein. Ich war aus dem gleichen Grund auf dem Weg zum Nordturm."
Odettas Augen weiteten sich vor Erstaunen.
„Sie auch"
„Ja!"
Da schlug sie die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Snape machte keinen Versuch, sie zu trösten, sondern wartete ab, bis sie sich wieder beruhigt hatte.

Als sie endlich wieder sprechen konnte sagte sie, mit deutlicher Erleichterung in der Stimme:
„Ich hab geglaubt, ich bin die Einzige! Es war so schlimm! Tag für Tag, Nacht für Nacht, immer alleine mit dieser Aufgabe. Mir war so kalt. Ich hab gefroren vor Einsamkeit."
„Ich auch", gab Snape zu. „Aber jetzt ist diese Einsamkeit vorbei. Jetzt werden wir gemeinsam wachen. Nicht zusammen, aber gemeinsam. Tag für Tag."
„Und Nacht für Nacht." Odetta lächelte ihn traurig an. „Da ist es ganz gut, dass wir Geister keinen Schlaf mehr brauchen, nicht wahr?!"
„Ja."
Beide schwiegen einen Moment, dann sagte Snape:
„Nun denn ... Auf eine ruhige Nacht, Odetta!"
„Auf eine ruhige Nacht ... Severus!"

Dann setzten beide ihren Weg fort, die eine zum Südturm, der andere zum Nordturm. Und als sie dort standen und ihre Wache über Hogwarts fortsetzten, taten sie es mit dem frohen Bewusstsein, nicht mehr allein zu sein. Von nun an würden sie gemeinsam wachen, Tag für Tag und Nacht für Nacht, bis in alle Ewigkeit.

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