Nicht allein

105 3 0
                                    

Sein Herz raste. Sein Körper zitterte. Er hörte seinen Atem, wie er die Luft schnell einsog und wieder ausstieß. Er konnte kaum den Boden unter ihm klarsehen. Immer noch versuchte er verwirrt, zu verarbeiten, was da gerade mit ihm geschah. Die Sekunden fühlten sich an wie eine Ewigkeit. Schwach rüttelte er ein weiteres Mal an den Fesseln, die um seine Handgelenke herumgebunden waren. Kein Entkommen. Der Schweiß rann ihm die Stirn herab. Seine Knie fingen an zu schmerzen, welche auf dem harten und kalten Boden auflagen.

Er hörte Stimmen um ihn herum. Viele. Fremde Stimmen. Auch bekannte Stimmen, die er aber in diesem Moment kaum einordnen konnte, da sein Verstand zu viel auf einmal zu verarbeiten hatte. Noch eine weitere Sekunde und er zwang sich endlich, den Blick vom Boden zu lösen und aufzuschauen. Und da sah er sie. Sie, die wohl die einschüchterndste und bedrohlichste Aura hatte, die er je gespürt hatte. Hinter ihr blickte ihm ihr steinernes und überragendes Antlitz ins Gesicht.

Sie wandte sich zu ihm um und hob die Hand. Ein violetter Lichtblitz bildete sich und er spürte etwas, das sich anfing, an seiner rechten Hüfte zu bewegen. Es zitterte immer stärker, dann löste es sich plötzlich. Nein!

Es fühlte sich an, als würde seine Lebensenergie ihm herausgesogen werden. Sein Blickfeld wurde trüber und blasser. Er musste zusehen, wie sein Göttliches Auge durch die Luft sauste und sich von seinem Besitzer entfernte. Immer weiter. Bis es schließlich auf die Hand der Göttin traf. Sie schloss ihre Finger fest um das heilige Artefakt. So fest, dass er glaubte, es würde mit ihr verschmelzen.

Die Stimmen wurden dumpfer und leiser. Seine Augen sahen immer verschwommener. Das Licht, das die Szenerie gerade noch hell erleuchtet hatte, verschwand. Bald erkannte er um ihn herum nichts mehr außer der Göttin, die ein paar Meter von ihm entfernt vor ihm stand. Sie kam plötzlich immer näher, ohne sich zu bewegen. Es war, als würde sie über den Boden schweben. Ihre Augen glühten in einem Blutrot. Sein Herz hämmerte schmerzhaft gegen seine Brust, ihm wurde eiskalt. Er glaubte zu erfrieren.

Die Göttin stand nun direkt vor ihm. Es war, als sei sie um drei Meter gewachsen. Sie hob ihre Hand zu ihrer Brust und legte ihre Finger um einen Griff, der aus ihrem Körper heraus erschien. Langsam zog sie die Waffe Zentimeter um Zentimeter heraus. Dann hatte sie sie plötzlich ganz in der Hand. Der Speer hatte eine violett glühende Schneide. Die Göttin hob die Waffe und holte zum Streich aus.

Die Erkenntnis traf ihn und seine Augen weiteten sich panisch. Er versuchte aufzustehen, sich aus seinen mittlerweile einschneidenden Fesseln zu befreien. Doch immer noch kein Entkommen. Es war, als seien seine Beine am Boden festgewachsen. Egal wie viel Kraft er aufwendete, sie lösten sich nicht. Ihm blieb nur noch seine Stimme. „Nein, bitte!", schrie er aus voller Kraft. Die Göttin starrte ihn nur mit ihren glühenden Augen an.

„Bitte!" Doch es war zu spät. Die Waffe sauste mit einer ungeheuren Geschwindigkeit auf ihn hinab. Sie zielte direkt auf sein Herz. Bevor alles dunkel wurde, spürte er noch einen unglaublichen Schmerz in seiner Brust.

Mit einem Schrei wachte Thoma auf. Er riss seine Augen auf, sein Atem ging stoßweise und er fühlte, dass er nassgeschwitzt war. Doch er blickte nur in die Dunkelheit des Raumes, in dem er sich befand. Keine Göttin. Keine Menschen. Kein Nichts. Als nächstes griff er hektisch nach dem Göttlichen Auge, welches er normalerweise an seiner Hüfte wusste. Erst als seine Finger das kühle Material des Artefaktes spürten, atmete er erleichtert aus. Seine Muskeln entspannten sich. Es war noch da.

Eine Welle der Dankbarkeit überflutete ihn, als er sich daran erinnerte, was an jenem Tag wirklich geschehen war. Jener Tag...es war gerade erst eine Woche her. Damals war es nicht dazu gekommen, dass er sein Göttliches Auge verlor, wie es eigentlich vorgesehen war. Und zwar nur dank eines gewissen Jemands, den Thoma für immer und ewig dafür in Erinnerung behalten würde. Der Reisende hatte ihn damals gerettet und sich der tödlichen Kraft der Göttin gestellt, sein Leben riskierend, damit Thoma nicht sein Göttliches Auge verlor. Er wollte sich nicht ausmalen, was jetzt wäre, hätte er das damals nicht getan. Ob sein Alptraum Wahrheit geworden wäre?

Er setzte sich auf und rieb noch einmal zur letzten Sicherheit über seine Brust. Alles heile. Dann stand er leise auf und entzündete eine Kerze mit seiner elementaren Kraft. Der Raum wurde langsam sichtbar. Er befand sich immer noch im Teehaus Komore. Thoma war hier, seitdem der Vorfall mit dem Shogun Raiden geschehen war und der Reisende und er hatten flüchten müssen. Seitdem hatte er keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt. Niemand wusste, dass er hier war, außer dem Reisenden, den Besitzern des Teehauses und seiner Lady, Kamisato Ayaka, welche ihm nicht nur ein guter Vorgesetzter, sondern auch eine gute Freundin war.

Thoma war nun schon so lange allein. Hin und wieder besuchte Ayaka ihn, ansonsten jedoch war er auf sich selbst gestellt. Und er musste zugeben, dies fiel ihm nicht gerade einfach, so kurz nach dem schrecklichen Vorfall. Außerdem war er ja noch nicht in Sicherheit, denn der Shogun herrschte immer noch und war nach wie vor unbesiegt. Wenn er wach war, versuchte er, so gut es ging, diesen Gedanken zu verdrängen. Doch wenn er schlief, holte es ihn immer wieder ein. Bisher hatte er noch mit niemandem darüber gesprochen. Er wollte seine Freunde nicht noch mehr belasten, sie trugen ohnehin schon genug Last auf ihren Schultern.

Thoma wünschte, er könnte helfen. Aber seine Freunde hatten ihm versichert, dass es nichts für ihn zu tun gab. Er hatte schon genug riskiert. Nun musste er in erster Linie an sein eigenes Wohl denken. Was ihm nicht leicht fiel, da er nicht daran gewöhnt war. Früher hatte er selten so sehr auf sich selbst geschaut. Es war ihm eines seiner höchsten Prioritäten, darauf zu achten, wie es den anderen in seinem Umfeld ging. Ayaka hatte ihm einmal gesagt, dass dies einer der Gründe war, weshalb sie ihn als ihren Haushälter gewählt hatte.

In dieser Nacht versuchte er noch ein paar Mal, wieder einzuschlafen. Doch es gelang ihm nicht. Wenn er die Augen schloss, sah er immer das violette Glühen vor ihm.


-^-


Am nächsten Morgen, während er gerade am Tisch saß und sein Frühstück aß, erschien ein bekanntes Gesicht vor ihm, das ihm ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Lady Ayaka stand dort im Eingang und winkte ihm liebevoll zu. „Guten Morgen.", sagte sie und setzte sich zu ihm. „Hey", erwiderte er erfreut und enthusiastisch wie immer. Heute fiel ihm dieser Ton schwerer als sonst. „Wollt Ihr auch frühstücken, Mylady? Ich kümmere mich sofort darum.", sagte er und machte Anstalten aufzustehen. Sie winkte ab. „Nein, nein, bleib ruhig sitzen, Thoma. Ich habe schon gegessen."

Thoma ließ sich zögernd wieder fallen. „Ehrlich, ich brauche nichts.", versicherte ihm Ayaka noch einmal, die wohl seine Gedanken erraten hatte. Sie wartete einen Moment. Dann fragte sie mit sanfter Stimme: „Wie geht es dir?" Ihre Augen blickten ihn besorgt an. Er setzte sein herzlichstes Lächeln auf. „Gut! Wie immer." Ayaka schien mit dieser Antwort nicht ganz zufrieden zu sein. „Thoma, du kannst immer mit mir reden. Das weißt du." Er nickte lächelnd und stopfte sich einen Dango in den Mund.

Der weitere Vormittag verlief ohne Zwischenfälle. Nachdem er und Ayaka fertig gefrühstückt hatten, sammelte Thoma das ganze Geschirr ein und brachte es in die Küche. Da er hier so lange bleiben musste und auf den Kosten der Besitzer des Teehauses lebte, hatte er sich angeboten, ihnen bei der Hausarbeit zu helfen, wo immer er konnte. Deshalb ließ er nun das Wasser ein, um das dreckige Geschirr zu spülen. Ayaka saß hinter ihm an einem Tisch, sie wollte ihm noch länger Gesellschaft leisten. „Ihr müsst nicht hierbleiben, während ich Hausarbeit mache, Mylady. Geht ruhig wieder zurück, ich komme schon klar.", sagte Thoma. „Schon gut. Ich möchte hierbleiben. Es stört mich nicht, dass du arbeitest. Mach dir keine Gedanken.", kam es von Ayaka zurück. Das brachte Thoma ein Lächeln ein.

Eine Weile war es still, man hörte nur das Klirren der Teller und Gläser und das Plantschen des Wassers. Ayaka ließ ihren Blick gedankenverloren durch den Raum schweifen, die Geräusche wirkten einschläfernd auf sie. Sie gähnte zufrieden und entspannte sich. Bis die Geräusche plötzlich verstummten. Verwundert ließ sie ihren Blick zu Thoma gleiten. Was sie sah, ließ ihre Augen weit werden. Er stand wie versteinert da. Als Ayaka genau hinsah, bemerkte sie ein leichtes Zittern, das seinen ganzen Körper durchschüttelte. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, nur seinen Rücken, aber das reichte ihr, um zu bemerken, dass etwas nicht stimmte.

Besorgt stand sie auf. „Thoma?" Sie näherte sich ihm und stellte sich neben Thoma, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Seine Augen waren geweitet und nach vorne gerichtet. Sein Mund war leicht geöffnet. Die Hände ruhten, in der Bewegung erstarrt, im Wasser, noch einen Teller und den Putzschwamm in der Hand. „Thoma?", wiederholte Ayaka etwas lauter. Sie hob ihre Hand und griff nach den Gegenständen in seinen Händen. Sanft nahm sie ihm ab. Diese leichte Bewegung löste eine Reaktion in Thoma aus. Es war, als würde er zu sich kommen. Er zuckte leicht zusammen und seine Augen schwenkten ruckartig zu ihr. Dann erkannte er sie. Thoma atmete hörbar aus. Sagen tat er nichts.

Ayaka blickte ihn stirnrunzelnd an. „Was ist gerade passiert?", fragte sie besorgt. Thoma winkte, immer noch leicht zitternd, ab. „Ach, nichts." Seine Stimme klang jedoch brüchig. Sie schauten sich eine Weile stumm an. Dann brach er vor ihren Augen zusammen. Seine Knie gaben nach und er landete unsanft auf dem Boden. Hektisch riss er seine Arme hoch und verdeckte sein Gesicht. Ayaka konnte jedoch seinen Mund sehen, er hatte die Zähne aufeinandergebissen, die Lippen zitterten.

Ayaka ließ sich zu ihm nieder und legte ihre Hände auf Thomas Schultern. „Was ist mit dir?", fragte sie sanft. Sie hörte ein unterdrücktes Schluchzen. Thoma war nicht in der Lage, zu antworten. Dies wurde ihr klar und sie näherte sich ihm und zog ihn in eine Umarmung. „Es ist okay. Lass es raus. Du musst nichts verstecken.", flüsterte sie in sein Ohr. Das Schluchzen wurde etwas lauter.

„Ich...ich...", versuchte Thoma zu antworten, aber seine Stimme versagte. „Schon gut. Es ist wegen des Vorfalls vor einer Woche, habe ich Recht?" Er nickte langsam. „Thoma." Sie drückte ihn ganz sanft ein wenig von sich weg, um ihm ins Gesicht zu schauen. Er hatte rote Augen, tiefe Furchen darunter und blaue Verfärbungen. Er sah furchtbar erschöpft aus. Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Sie lächelte ihn liebevoll an. „Es ist ganz normal, dass es dir jetzt nicht gut geht. Du musst nicht so tun, als wäre nichts. Es würde mich eher wundern, wenn es dir gut gehen würde."

Thoma senkte verlegen den Blick und nickte. Ayaka zog ihn wieder an sich. „Willst du reden?" Er schüttelte den Kopf. „In Ordnung." Sie saßen so eine Weile lang auf dem Boden. Allmählich verebbte das Schütteln, dass Thomas Körper durchzog. Das Schluchzen wurde weniger, bis es schließlich verstummte. Thoma löste sich endlich von Ayaka und stand auf. Er hatte bereits wieder ein Lächeln auf den Lippen. Thoma streckte die Hand aus und reichte sie Ayaka. Diese nahm dankend an und ließ sich von ihm sanft hochziehen. „Vielen Dank, Mylady. Ihr könnt jetzt aber wirklich zurückkehren."

Ayaka prüfte ihn nochmal mit einem Blick. Dann nickte sie. „Gut. Aber bitte versprich mir eines." Thoma nickte bereits im Voraus. „Rede das nächste Mal mit mir, statt alles mit dir allein auszumachen." Er hielt inne und zögerte. Dann errötete er leicht und senkte den Blick. „In Ordnung.", antwortete er verlegen. Ayaka lächelte ihm noch einmal zum Abschied zu, dann verließ sie die Küche und ließ Thoma allein.

Er schaute ihr noch für einen Moment hinterher. Dann spürte er, wie es in seiner Brust warm war. So warm war es ihm nicht mehr gewesen, seit er hier im Teehaus festsaß. Ayaka hatte ihm wirklich einen Teil seiner Last abnehmen können. Plötzlich war er unglaublich froh, dass er sich ihr geöffnet hatte, wenn auch nicht ganz freiwillig. Auf einmal war er sich sicher, dass er die nächste Nacht besser schlafen können würde.

Nicht allein (Genshin Impact Oneshot)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt