Ich finde mein Opfer in einem Tanzlokal an der 47. Straße.
Auf meinem Weg dorthin bin ich alle paar Schritte stehengeblieben und habe mir von Passanten etwas über diese neue Welt erzählen lassen. Ich weiß jetzt, dass Europa noch existiert und meine Heimat Wien immer noch eine Großstadt ist. Anscheinend hat es während meiner Abwesenheit zwei Weltkriege gegeben. Umso faszinierender, dass davon nichts mehr zu spüren ist. Das New Yorker Nachtleben vibriert, kunterbunt und energiegeladen. Inzwischen habe ich mich an den Lärm und die vielen Lichter gewöhnt. Langsam finde ich sogar Gefallen daran. Ich mag es, wenn es lebendig ist. Und nirgendwo ist es so lebendig, wie unter jungen Menschen, die nur ihren Spaß im Sinn haben. Das war vor 100 Jahren nicht anders. Diese Liebe zum Lebendigen unterscheidet uns Inkubi von anderen Dämonen. Die meisten normalen Dämonen halten sich von Menschen fern oder sehen von oben auf sie herab. Sie kämen nicht auf die Idee, sich unvoreingenommen und enthusiastisch ins Nachtleben zu stürzen. Ich bin da ganz anders.
Als ich den Club an der 47. Straße erreiche, kann ich mein Opfer bereits riechen. Ihr Psychor duftet herrlich. Mir läuft wortwörtlich das Wasser im Mund zusammen, auch wenn ich nicht vorhabe, sie zu verspeisen. Der Türsteher winkt mich durch und schon bin ich im Innern einer Halle, in der die Lichter pulsieren, die Rhythmen stampfen und die knapp bekleideten Menschen schlangenartige Bewegungen vollführen. Vorbei sind die Zeiten von Reifrock, Korsett und Anstandsdamen. Männer und Frauen tanzen Seite an Seite und Körperkontakt scheint nicht nur erlaubt, sondern sehr erwünscht zu sein. Ich kann mir ein breites Grinsen nicht verkneifen. Sieht ganz so aus als könnte das 21. Jahrhundert mein neues Lieblingsjahrhundert werden.
Die Anwesenheit eines Inkubus wird von den Menschen natürlich sofort bemerkt, auch wenn sie nicht wissen, dass sie es mit einem Dämon zu tun haben. Sie sehen nur einen attraktiven Mann mit kupferrotem Haar, der ihnen auf eigenartige Weise das Gefühl gibt, eine Eroberung wert zu sein. Die tanzende Menge teilt sich, um mir Platz zu machen. Gleichzeitig strecken sich von allen Seiten Hände nach mir aus, als wollten sie mich locken. Ich ignoriere sie und folge stattdessen meiner Nase tiefer in das Gewühl aus Miniröcken, Paillettenkleidern, Neonlichtern, Parfüm und jeder Menge nackter Haut.
Am Kopfende der Halle befindet sich eine kleine Bühne. Darauf steht ein Pult, das von bunten Lichtern ominös angestrahlt wird. Der Mann dahinter scheint die Musik mit seinen Händen steuern zu können. Im Einklang mit seinen Bewegungen auf einer rotierenden Scheibe werden die Rhythmen schneller oder langsamer, was von der Menge mit Jubelrufen und anderen lustvollen Lautäußerungen quittiert wird.
Plötzlich knallt es und glitzernde Papierschnipsel senken sich auf die Menschen herab. Ich verharre auf der Stelle und beobachte die entstehenden Lichtreflexe. Fast komme ich mir wieder vor wie ein junger Dämon, der sich zum ersten Mal unter Menschen mischt, auch wenn ich daran keine besonders guten Erinnerungen habe. Und dann sehe ich sie.
Sie steht vor der Bühne und tanzt. Trotz ihres eher gedrungenen Körperbaus sind ihre Bewegungen sinnlich und elegant. Sie trägt Schuhe mit hohen Absätzen und ein dunkelblaues Satinkleid, das ihre Kurven umschmeichelt. Dazu funkelnde Ohrringe und eine schmale Halskette. Die schwarzen Haare fallen ihr seidig glatt über die Schultern und verbergen ihr Gesicht. Aber ich weiß trotzdem, dass sie die Richtige ist. Jedenfalls für heute Nacht.
Ich streiche mir durch die Haare und richte mein schlecht sitzendes Hemd, auch wenn ich weiß, dass niemand bemerken wird, wie nachlässig ich gekleidet bin. Dann nähere ich mich meinem Ziel. Noch ehe ich zwei Schritte in ihre Richtung gemacht habe, ergreift ein anderer Mann seine Chance. Er ist groß, sicher einen halben Kopf größer als ich, breitschultrig gebaut und trägt ein Hemd, das an der Brust und den Oberarmen merklich spannt. Seine dunklen Haare sind am Oberkopf länger als an den Seiten, was derzeit modern zu sein scheint.
Ich vermute, dass er meine Auserwählte ansprechen wird, aber stattdessen drängt er sich an sie und wiegt die Hüften, als wollte er sie gleich hier und jetzt begatten. Mir ist schleierhaft, was er sich von diesem Paarungsversuch erhofft, denn wie schon zu erwarten, fährt mein Opfer herum und schlägt ihm die kleine, perlenbesetzte Handtasche gegen die Brust. Dann stößt sie ihn mit aller Macht zurück und beschimpft ihn auf eine Art und Weise, die wohl jeden Vater stolz gemacht hätte. Ihr wutverzerrtes Gesicht wirkt trotz aller Aggression rund und puppenhaft. Ein Eindruck, der durch ihre dunkel geschminkten Augen und ihren zarten Mund noch betont wird. Schnaubend stampft sie an mir vorbei von der Tanzfläche und drängt sich durch die Menge zum Ausgang. Eilig laufe ich ihr nach.
Vor dem Eingang des Lokals finde ich sie wieder. Sie steht etwas abseits, im Schein einer flackernden Neonbeleuchtung und raucht eine Zigarette. Dabei wippt sie mit dem Fuß und starrt in den dunklen Himmel hinauf. Sie wirkt unruhig. Angespannt. Verärgert. Es fällt mir schwer, zu glauben, dass der Vorfall von eben allein für diesen Zustand verantwortlich ist. Etwas lastet auf ihrer Seele. Ich kann es förmlich schmecken.
„Hallo", grüße ich lächelnd.
„Hi", erwidert sie, ohne mich anzusehen.
„Du kannst mir nicht zufälligerweise mit einer Zigarette aushelfen?"
Sichtlich genervt wendet sie sich mir zu und ich kann sehen, wie sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht verändert. Ihre Mimik wird weicher und wärmer. Die Spur eines Lächelns tritt in ihre kakaobraunen Augen. „Kleinen Moment", murmelt sie und kramt in ihrer Handtasche. Während sie sucht, färben sich ihre Wangen hellrosa. Ein wirklich entzückender Anblick. Schließlich wird sie fündig und streckt mir eine Zigarettenpackung hin. Ich nehme eine Zigarette heraus und lasse mir von ihr Feuer geben, auch wenn das nicht nötig gewesen wäre.
Wie alle Dämonen meiner Abstammung besitze ich eine angeborene Verbundenheit zum Element Feuer. Wir nennen diese Gabe eine Feueraszendenz. Was sich dahinter verbirgt, ist nicht leicht zu erklären. Vereinfacht formuliert, könnte man sagen, dass jedes belebte und unbelebte Objekt von einem Gleichgewicht aus Licht und Finsternis durchdrungen ist. Wir Dämonen können dieses Gleichgewicht in Richtung Finsternis verschieben, was es uns ermöglicht, unsere Umgebung zu manipulieren. Dabei fällt es Feueraszendenten besonders leicht, brennende Gegenstände zu beeinflussen. Es wäre mir also problemlos möglich gewesen, Feuer von ihrer Zigarette auf meine Zigarette zu übertragen. Aber vielleicht ist es noch nicht an der Zeit, solche Tricks in der Öffentlichkeit vorzuführen. Außerdem bin ich noch geschwächt von meiner langen Hungerperiode.
„Danke", sage ich und sauge an der Zigarette. Der Tabakrauch füllt meine Lungen, schwer und bitter. Ich mag das Gefühl, auch wenn es mir keine Entspannung verschafft. „Ich bin Ignatius", stelle ich mich vor.
„Hope", antwortet die junge Frau. Ihre dunklen Augen mustern mich abschätzend. Es wirkt ein bisschen so, als frage sie sich, ob wir uns kennen würden. Dabei bildet sich ein niedliches Grübchen über ihrer Nasenwurzel. Im selben Atemzug fällt mir der silberne Ring an ihrem Nasenflügel auf. Vermutlich auch so eine Modeerscheinung, die ich während meiner Abwesenheit verpasst habe.
„Es heißt, dass die Hoffnung immer zuletzt stirbt."
Hope verzieht spöttisch die Lippen. „Aber sie stirbt."
„Aber sie stirbt", stimme ich ihr zu.
Nach kurzem Schweigen stößt Hope einen leisen Seufzer aus. „Tut mir leid. Normalerweise bin ich nicht so ungesellig." Sie schenkt mir ein schiefes Lächeln.
Ich spüre, dass sie meiner Anziehungskraft verfällt und bin fast ein wenig enttäuscht. Doch mir ist klar, dass ich ihr deswegen keinen Vorwurf machen kann. Auch in ihrer Seele herrscht ein sensibles Gleichgewicht von Licht und Finsternis. Kommt dieses Gleichgewicht in Kontakt mit einem Dämon, gewinnt die Finsternis die Oberhand. Manche Dämonen nutzen diesen Umstand, um Menschen zu manipulieren und sie zu ihren willenlosen Sklaven zu machen. Dazu bin ich nicht in der Lage. Ich würde es auch nicht wollen. Aber in gewisser Weise hat meine Anziehungskraft einen ganz ähnlichen Effekt. Manchmal wünsche ich mir, diese Fähigkeit einfach abstellen und unbemerkt in der Menge verschwinden zu können, doch ich habe schon früh gelernt, dass das unmöglich ist. Ich bin, was ich bin. Nichts kann daran etwas ändern.
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Nachtmahr
Short StoryIgnatius ist ein Inkubus. Als er nach langer Abwesenheit im New York des Jahres 2020 wieder auftaucht, muss er sich in einer neuen Zeit zurechtfinden - und ein passendes Opfer suchen. Triggerwarnungen: (sexuelle) Gewalt, psychische Probleme, sexuell...