Es ist kurz vor Mitternacht. Das Feuerwerk wird bald anfangen.
Ich irre durch die Räume des Verbindungshauses auf der Suche nach Liam und Noah. Wir studieren alle an der Columbia und wohnen im selben Wohnheim in Lower Manhattan. Wenn es nicht so wäre, wären wir wohl kaum enger befreundet. Liam ist ein gutaussehender, aber kontrollsüchtiger Freak, der seinen besten Kumpel Noah wie seinen persönlichen Sklaven behandelt. Ich muss gestehen, anfangs war ich ein wenig verknallt in Liam. Keine Ahnung, wieso. Aber seit ich gemerkt habe, was für ein Mistkerl er ist, ignoriere ich ihn. Wenn er mich fette Kuh oder kleines Schweinchen nennt, lasse ich es nicht an mich heran. Liam mag es, andere Menschen zu verletzen und ich habe keine Lust, seine Zielscheibe zu sein.
Außerdem will ich meine wertvolle Zeit nicht mit Arschlöchern verschwenden. Das Medizin-Studium ist mein Traum und ich habe viel geopfert, um überhaupt hier sein zu können. Meine Eltern halten nämlich nicht viel von moderner Medizin. Als ich noch klein war, haben sie sich sogar geweigert, mir Antibiotika zu geben, weil sie der Meinung waren, Gott würde mein Leiden schon heilen, ganz ohne weltlichen Einfluss. Manchmal hasse ich meine Eltern und die dummen Priester, die ihnen diesen ganzen Unsinn einreden. Aber ich kann auch nicht aufhören, sie zu lieben. Es ist wie verhext.
„Liam?", rufe ich. „Sie suchen dich. Die Musikanlage hat einen Knall und du sollst helfen, sie zu reparieren."
Ich durchquere den holzvertäfelten Korridor und spähe dabei in alle abzweigenden Türen. Dumpf kann ich das Wummern der Musik hören. Der Bass bringt die Wände zum Vibrieren. Draußen knallt es bereits vereinzelt.
„Liam?" Ich spähe in eines der Badezimmer. Es ist mit hübschen chinesischen Fliesen ausgestattet. Die Toilette lässt sich mit einer Art Zugband bedienen. Vor der Schüssel hockt eine junge Studentin und wirft mir einen müden Blick zu. Kotze klebt ihr am Mundwinkel und ich beschließe, sie nicht weiter zu stören.
Als ich wieder zu meiner Suche zurückkehre, begegnen mir weitere Studenten. Die meisten von ihnen tragen T-Shirts mit dem Logo der Studentenverbindung. Sie sind ausgesprochen gut gelaunt, singen, tanzen und schwenken Bierflaschen. Kurz werde ich in die Zange genommen und kriege zwei dicke Schmatzer auf die Wangen, die stark nach Alkohol riechen.
Ich befreie mich und setze meinen Weg fort. „Liam? Noah? Wo steckt ihr denn?"
Eine Studentin mit roten Locken und einem Schnüroberteil, das ihre üppigen Brüste kaum halten kann, wird auf mich aufmerksam. „Suchst du Liam?", fragt sie, während sie eine der Zimmertüren hinter sich zuzieht. Ihre Sprechweise ist bereits etwas verwaschen.
Ich bejahe und berichte von der Musikanlage, die offenbar kurz davor ist, den Geist aufzugeben. Und da Liam ein Händchen für Technik besitzt, hat man mich losgeschickt, um ihn zu suchen. Keine Ahnung, wieso ich immer zum Kindermädchen für die beiden Jungs degradiert werde. Immerhin sind die beiden einige Jahre älter als ich und ein paar Semester über mir.
„Ich glaube, Liam und Noah sind nach oben gegangen", erklärt die Rothaarige, während sie in den Hals ihrer Bierflasche späht, als könnte sie darin irgendeine höhere Weisheit erkennen. „Zusammen mit Kim." Sie wirft mir einen bedeutungsschweren Blick zu. Ich weiß, was sie meint. Kim hat den Ruf ein Flittchen zu sein, das sich jedem Kerl an den Hals wirft.
Ein lautloses Seufzen verlässt meine Kehle. „Vielen Dank."
Ich beschleunige meine Schritte und haste zu der engen Stiege, die durch ein braun gekacheltes Treppenhaus in die private Lounge des Verbindungshauses führte. Dort bewahren die Verbindungsmitglieder ihre Männer-Sachen auf, heißt es. Vermutlich jede Menge Pornos und andere Wichsvorlagen. Vielleicht auch ein paar Spielekonsolen. Es ist mir egal. Ich will nur so schnell wie möglich Liam finden, damit er die Musikanlage repariert, bevor die Party zu einem Desaster wird.
„Liam?", frage ich laut und klopfe gegen die schwere Tür am Ende der Treppe. Keine Reaktion.
Ich bin jedoch nicht soweit gekommen, um jetzt aufzugeben. Entschieden packe ich den Türgriff und zerre die Tür einen Spalt weit auf, sodass ich einen Blick in den dahinterliegenden Raum werfen kann.
Der Raum selbst ist unspektakulär. Heller Teppichboden. Schwarzes Ledersofa. Großer Flatscreen. Ein blinkender Retro-Spielautomat unter dem Erkerfenster. Freizügige Poster von Pornodarstellerinnen, die auf Namen wie Raven, Angel, Black oder Kandi hören.
Ganz und gar nicht unspektakulär, sondern grauenerregend ist der Anblick von Liam, Noah und Kim. Die junge Frau liegt auf dem Sofa. Ihr kurzer Rock ist bis zum Bauchnabel hochgeschoben. Noah kniet hinter ihr und hält ihre Arme fest, während Liam mit heruntergelassener Hose zwischen ihren Beinen hockt. Kim ist ganz offensichtlich stark alkoholisiert. Trotzdem wehrt sie sich gegen den Übergriff, kann die beiden Männer jedoch nicht abschütteln.
„Hey!", entfährt es mir und sofort weiß ich, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich hätte die Klappe halten und Hilfe holen sollen.
„Fuck", flucht Liam und zieht sich die Hose hoch.
Ich fahre auf den Absätzen meiner Stiefel herum und haste die Treppe hinunter. Auf halbem Weg hat Liam mich eingeholt. Ich kriege einen Stoß in den Rücken und stürze die restlichen Stufen hinunter. Mit ausgestreckten Armen kann ich mich abfangen und schwerere Verletzungen verhindern. Trotzdem pralle ich am Ende der Treppe hart auf und bleibe benommen liegen.
Im nächsten Moment werde ich gepackt und auf die Beine gezerrt. Liam packt mich an der Kehle und presst mich so fest gegen die gekachelte Wand, dass mir die Luft wegbleibt. Ich fasse nach seinem Unterarm und versuche, mich zu befreien. Meine Fingernägel ritzen seine Haut. Daraufhin schlägt er mich mit der flachen Hand fest ins Gesicht. Lichter tanzen vor meinen Augen. Mein Trommelfell vibriert.
„Du scheiß Schlampe", zischt er mir ins Ohr. „Wenn du auch nur ein Wort zu irgendwem sagst, komme ich nachts in dein Zimmer und schneide dir die Zunge raus. Kapiert?" Er schüttelt mich, sodass mein Hinterkopf gegen die Mauer knallt. „Du weißt, dass ich die Wahrheit sage. Außerdem weißt du genau, dass ich wegen dieser Sache nicht ins Gefängnis kommen werde. Die Schlampe hat es so gewollt. Sie macht's mit jedem und sie war heiß auf mich. Das wissen alle. Also, was soll's? Ich hab ihr nur gegeben, was sie gebraucht hat."
Sein fester Griff und die Wahrheit in seinen Worten treiben mir die Tränen in die Augen. Ich weiß, Kim wird das Geschehene abstreiten. Alle haben Angst vor Liam.
„Glaub nicht, ich wüsste nicht, dass du auch mal heiß auf mich warst", lacht Liam und zupft mit den Zähnen an meinem Ohr. Ich bin so angewidert, dass ich mich am liebsten auf der Stelle übergeben hätte. „Und ich bin nicht der einzige, der das weiß." Er fasst mir an den Po und mir entweicht ein leiser Schrei. „Ja, genau, quiek du nur, du Schweinchen. Aber wenn du das Maul aufreißt und mich verpfeifst, werden alle glauben, du wärst eifersüchtig, weil ich Kim gefickt habe und nicht dich."
Ich zittere vor Angst und Zorn. Nach einigen Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen, lässt Liam mich los und schubst mich zurück in den Korridor. „Also kein Wort zu irgendwem, du Miststück", ruft er mir nach. "Ich behalte dich im Auge. Glaub nicht, du könntest mich verarschen. Ich sehe alles. Und wenn ich auch nur den Verdacht habe, du könntest was anstellen, wirst du es bereuen."
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Nachtmahr
Short StoryIgnatius ist ein Inkubus. Als er nach langer Abwesenheit im New York des Jahres 2020 wieder auftaucht, muss er sich in einer neuen Zeit zurechtfinden - und ein passendes Opfer suchen. Triggerwarnungen: (sexuelle) Gewalt, psychische Probleme, sexuell...