27. Sie ist deine Schwester!

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°○ Maria ○°

"Dann hat er ja wieder Spaß gehabt."
"Ich glaube nicht, dass Leon da wirklich Spaß dran hatte. Das ist einfach irgendwie ausgeartet zwischen Adrian und ihm."
"Ja, bestimmt!" Eddie lachte. "Glaub das mal ruhig, wenn du dich dann besser fühlst."
"Du bist gemein!"
Wir liefen zusammen am Spielplatz, nur wenige Hundert Meter von Eddies Zuhause entfernt, vorbei.
Als ich jünger war, hätte ich bestimmt gerne hier gespielt, vor allem im Sandkasten oder ich hätte geschaukelt. Das hatte ich immer geliebt, wobei ich damals deutlich länger dazu gebraucht hatte, bis ich es ohne Hilfe gekonnt hatte, als die anderen aus dem Kindergarten.
"Er macht dir doch nur was vor, Maria. Verstehst du das nicht?"
Ich schwieg, ließ den Blick weiter über den Spielplatz wandern, auf welchem helles Mondlicht fiel, sah die Rutsche, das Gerüst zum Klettern und dann schließlich den Drehkreisel, womit Leon und ich letztens noch zusammen gefahren waren, so schnell, dass mir dadurch schlecht geworden war.
"Diese ganze Helden-Nummer. Damit will Leon dich doch-"
"Bitte, können wir das Thema nicht einfach mal lassen?", unterbrach ich Eddie. "Ich will mich nicht immer mit dir streiten."
"Das müssen wir ja nicht. Du sollst halt nur nicht immer alles so hinnehmen, was Leon sagt."
"Das tu ich nicht."
"Ja, genau!" Eddie lachte wieder. "Darum sind deine Haare jetzt auch wieder braun gefärbt, genauso wie du sie von Natur aus hast."
"Nicht genauso", widersprach ich ihm. "Das hier ist schokobraun."
"Und heute Vor-"
"Von Natur bin ich Haselnuss."
"Das ist doch kein großer Unterschied."
"Es ist ein Unterschied!"
"Ja, aber kein großer, wie gesagt", meinte Eddie.
"Ja und?" Ich verdrehte die Augen. "Mir gefällt das so."
"Die rote Farbe hat dir auch gefallen."
"Ja, aber das-"
"Leon fand sie hässlich", fiel Eddie mir ins Wort. "Stimmt's oder hab ich recht?"
"Hässlich hat er nicht gesagt."
"Dann hat er es halt anders ausgedrückt. Kommt doch auf dasselbe hinaus."
Dazu sagte ich nichts mehr.
Eddie hatte ja recht.
Leon fand mich hässlich. Da konnte ich mir die Haare färben wie ich wollte, mir so viel Zeug ins Gesicht klatschen, bis ich vornüber kippte, ich wäre immer noch die Vogelscheuche - für ihn genauso wie für jeden anderen auch.

°○ Leon ○°

"Aufwachen!" Richards Stimme.
Ich schreckte auf.
Grelles Licht stach in meine Augen. Ich wollte sie mir reiben, bemerkte dann allerdings, dass meine Hände nicht frei, sondern hinter mir am Heizungsrohr festgeschnallt waren.
Die Kabelbinder, erinnerte ich mich und schauderte.
Es war kalt hier im Raum, war es die ganze Zeit gewesen, auch gestern schon, als Richard mich nach dem Abendessen hier gefesselt und dann eingesperrt hatte. Nur jetzt war es schlimmer. Jetzt kam die Kälte nicht mehr nur von Außen. Jetzt war sie auch in mir drin, war bis in meine Knochen hineingekrochen.
Ich blinzelte.
"Du kannst gleich mal deine Schwester wecken", meinte Richard, der hatte sich inzwischen zu mir herunter gebeugt und schnitt mir mit einem kleinen Schälmesser die Kabelbinder los. "Und dann bringst du sie in den Kindergarten, bevor du zur Schule gehst."
Er trug bereits seine blaue Latzhose mit der weiß-roten Aufschrift Autohaus Waldner GmbH, darunter ein rot-blau gestreiftes Hemd.
"Los, jetzt! Beweg dich!"
Ich quälte mich auf die Füße und widerstand dabei dem Drang, mich an der Heizungsstange hochzuziehen. Diese Blöße würde ich mir nicht geben, auch wenn die Schmerzen mir die Tränen in die Augen trieben. Ich drängte sie zurück, dann lief ich wortlos an Richard vorbei durch die Tür hinaus.
Im Badezimmer ging ich erst mal auf die Toilette, dann putzte ich mir die Zähne und nahm eine Dusche, bevor ich an diesem Tag einen ersten Blick in den Spiegel warf.
Wie immer sah ich nicht mal annähernd so abgefuckt aus, wie ich mich fühlte.
Meine bisher unverletzte Wange trug jetzt einen dicken blauen Fleck. Und mein Rücken zierten neben den allmählich verheilenden Striemen und Verbrennungen mittlerweile so viele frische Wunden, dass er jetzt in so ziemlich allen Farben des Regenbogens gemalt zu sein schien. Auch meine Brust hatte diesmal etwas abbekommen. Mehrere rote Flecken auf der Haut, größer als jene, welche Richard mir mit den Zigaretten auf den Rücken gestempelt hatte.
Für diese Art der Quälerei hatte er ein Feuerzeug benutzt. Hatte es mir an die Haut gehalten. Hatte sie mir damit angeröstet, so wie man sich ein Marshmellow an den Flammen eines Lagerfeuers anröstete.
Sachte legte ich einen Finger auf eine der Verbrennungen, gleich darauf zuckte ich zusammen, als ein heißer Schmerz durch meinen Körper fuhr.
Im Arzneischrank fand ich Wundsalbe. Die trug ich mir dünn auf, zumindest auf jene Stellen meines Körpers, welche ich erreichen konnte, bedeckte den Bluterguss auf meiner Wange mit ein wenig von Sabines Abdeckstift, welcher mir zu solchen Gelegenheiten bisher immer gute Dienste geleistet hatte und schluckte dann noch zwei Iboprofen mit einigen Schlucken Wasser aus dem Wasserhahn hinunter.
Als nächstes warf ich noch einen prüfenden Blick in den Spiegel.
Ja, so würde es gehen, dachte ich. Um Fragen würde ich so zwar nicht herum kommen, aber groß wundern würde mein Anblick keinen, das tat es nie.
Wer austeilt, muss auch einstecken können, so war das eben, dachte ich und verzog mein Gesicht zu einem Grinsen. Es reichte nicht bis zu meinen Augen, trieb nur wieder Tränen hinein.
Diesmal ließ ich sie kommen, spürte schon bald, wie sie mir an den Wangen herunterliefen bis in den Rollkragen meines Pullovers hinein.
Mein Plan war einfach gewesen: Nach Hause gehen, mich von Richard verprügeln lassen und dann zusammen mit Minchen das Weite suchen.
Es hatte nicht funktioniert.
Denn diesmal war ich ich nicht der einzige gewesen, auf dem Richard es abgesehen hatte. Diesmal hatte es auch Minchen getroffen.
Judith hatte angerufen, gestern Nachmittag war das passiert.
Sie hatte mit Richard gesprochen. hatte ihm von ihrer Sorge erzählt, die Minchen ihr machte. Und dass es ihrer Meinung nach dringend nötig wäre, sich deswegen mal zusammenzusetzen.
Ich hatte nichts von dem Telefonat mitbekommen, zu dem Zeitpunkt war ich noch mit Minchen auf dem Spielplatz gewesen.
Als wir dann nach Hause gekommen waren, hatte Richard mich direkt in die Abstellkammer gesperrt. Hatte mir gezeigt, was er davon hielt, wenn man die Schule nicht packte. Als er damit fertig gewesen war, hatte er mir erklärt, was mit kleinen Mädchen passierte, die sich nicht benehmen konnten. Deren Erzieher bei den Eltern anriefen, weil ihre Tochter nun schon fast täglich Ärger im Kindergarten machte, dort mit Stühlen um sich warf und andere verprügelte.
Und dann war er gegangen. Hatte mich dort in der miesen kalten Butze zurück gelassen.
Das war das schlimmste gewesen.
An den Händen gefesselt dazusitzen in einem abgeschlossenen Raum und nichts tun zu können. Einfach abwarten zu müssen, bis alles vorbei war. Bis Richard wieder gekommen war, um mich noch einmal auf die Toilette gehen zu lassen. Und um mich dann direkt wieder in diese Kammer zu stecken.
Ich hatte ihn darum gebeten, mich zu Minchen gehen zu lassen. Mich wenigstens kurz nach ihr gucken zu lassen.
Ich hatte ihn angefleht.
Aber Richard hatte mir nicht mal zugehört.
"Aufwachen, Prinzessin!", flüsterte ich wenig später im Zimmer meiner Schwester, strich ihr dabei die Haare aus dem Gesicht und gab ihr dann einen Kuss auf die Wange. "Gleich geht's wieder in den Kindergarten."
Minchen stieß ein leises Brummen aus.
"Na komm!" Langsam zog ich ihr die Decke weg, dann knipste ich die Lampe auf ihrem Nachttisch an. "Lass uns mal eben gucken, was du heute anziehen willst."
Minchen drehte sich zur anderen Seite.
"Wie wäre es mal mit einem Kleid?", sprach ich weiter, lief zum Kleiderschrank und suchte ihr zu einer Lage sauberer Unterwäsche ein rotes Kleid mit weißen Herzen aus, dazu einen grauen Pullover und eine farblich dazu passende Strumpfhose. "Das ist doch hübsch, guck mal!"
Minchen guckte nicht.
"Darin siehst du immer richtig niedlich aus", meinte ich, setzte mich neben Minchen aufs Bett und hob sie dann auf meinen Schoß. "Aber sonst kannst du dir ja auch was anderes aussuchen, wenn dir das nicht gefällt." Ich küsste sie wieder, dann roch ich an ihren Haaren. "Hast du gestern geduscht?"
"Papa", antwortete Minchen.
"Papa hat dich geduscht?"
"War kalt." Minchen nieste.
Verdammtes Schwein, dachte ich, nahm ein Taschentuch vom Nachttisch und hielt es meiner Schwester vor die Nase, daraufhin schnäuzte sie gleich hinein.
"Hast du dich erkältet?" Sanft legte ich Minchen eine Hand an die Stirn. "Fieber hast du schon mal nicht."
"Will im Bett bleiben."
"Nein, jetzt gehst du erst mal auf Toilette."
"Nein!"
"Doch!", bestimmte ich. "Und dann putzen wir dir die Zähne."
Erst durch das grelle Deckenlicht im Badezimmer wurde mir das ganze Ausmaß dessen bewusst, was sich gestern zwischen Richard und Minchen abgespielt hatte.
Es schien dasselbe Programm gewesen zu sein, wie bei mir, nur dass Richard sie wohl ausschließlich mit Zigaretten verbrannt hatte und zum Schlagen nicht den Gürtel, sondern etwas dünneres benutzt hatte - den Bambusstock im Blumentopf neben dem Garderobenständer, vermutete ich, während ich meiner Schwester die Wunden mit Salbe eincremte.
"Soll ich dir gleich mal die Haare flechten?"
"Will Seursalon spielen." Minchen nieste wieder. "Flechten!"
Die Türklinke wurde hinunter gedrückt, dann folgte ein schnelles Klopfen.
"Seid ihr da drinnen bald mal soweit?" Manuel.
"Noch fünf Minuten", rief ich.
"Ich hab keine fünf Minuten!"
"Pech für dich!"
"Jetzt mach schon auf!", drängte Manuel. "Ich muss pinkeln!"
"Und Minchen muss noch Zähneputzen!"
"Will Essen", sagte Minchen.
"Dazu haben wir jetzt keine Zeit mehr."
"Aber ich hab Hunger!"
"Ich hol dir unterwegs noch was vom Bäcker, okay? Jetzt-"
"Leon!"
"-zieh dich mal an! Wir müssen gleich los", wies ich Minchen an, dann lief ich zur Tür und schloss sie auf.
Manuel kam herein, musterte kurz Minchen, dann fiel sein Blick wieder auf mich.
"Wollt ihr mir zugucken beim Pinkeln?"
"Was denn?", höhnte ich. "Ich dachte, du platzt gleich."
"Ja, aber-"
"Dann geh halt jetzt pissen, du Affe! Wir gucken dir schon nichts weg", unterbrach ich ihn und half Minchen dann dabei, ihren Kopf durch den engen Rollkragen des Pullovers zu bekommen.
Einen Moment zögerte Manuel noch, dann lief er zur Toilette.
"Aber dreh sie mal so, dass sie mich nicht sieht."
"Ich kann ihr das auch als Video aufnehmen."
"Witzig!"
"Ich hab Hunger!", jammerte Minchen.
"Gleich bekommst du was", meinte ich und gab meiner Schwester noch einen Kuss, bevor ich ihr die Druckknöpfe an der Seite ihres Kleides zumachte. "So, und nun die Strumpfhose!"
"Leon, bitte! Kann-"
"Halt den Mund jetzt!", fuhr Manuel sie an.
"Reg dich mal ab, du Affe!"
"Nenn mich nicht immer Affe, du Knallkopf!"
"Ach, Entschuldige bitte!" Ich grinste. "Soll ich dich lieber Hosenscheißer nennen? Ist dir das lieber?"
"Hast du den Arsch offen?"
"Wo warst du denn gestern Abend, als Richard auf Minchen losgegangen ist?"
"Ich hatte Kunden abzukassieren!"
"Ja, super!"
"Hätte ich die da stehen lassen sollen?"
"Du hättest Minchen beschützen sollen!"
"Aber das war doch gar nicht meine Sache!"
"Sie ist deine Schwester!"
"Ja und?" Manuel zuckte die Achseln. "Deine ist sie noch doppelt so viel. Und du hast auch nichts getan."
"Wie hätte ich das denn auch anstellen sollen?", fragte ich.
"Du hättest ja wieder mit ihr abhauen können", meinte Manuel. "So wie letztes Mal."
"Ja, wenn du mal ein bisschen geholfen hättest, dann hätten wir das auch so hinbekommen", sagte ich. "Hättest mich einfach nur aus dieser Bumsbude rausholen müssen und-"
"Wie hätte ich das denn anstellen sollen ohne Schlüssel?"
"Den hättest du dir schon irgendwie beschaffen können!"
"Aus der Tasche von Richard, ist klar!"
"Oder aus dem Schlüsselschrank im Büro. Da hängen immer die Ersatzschlüssel."
"Ja, aber nicht mehr der vom Abstellraum", erwiderte Manuel. "Den schließt Vater jetzt immer weg, seid der Sache letztens."
"Dann lässt man sich eben etwas anderes einfallen", meinte ich, nahm die Haarbürste von der Ablage und begann dann damit, Minchen die Haare zu kämmen. "Vielleicht hättest du es ja auch geschafft, das Fenster aufzubrechen."
"Und was-"
"Oder mit Minchen abzuhauen."
"Das sollt ich mal versuchen!"
"Ja, solltest du wohl mal", sagte ich.
"Gut, dass du das auch so siehst!"
"Das mach ich einmal und dann setzt Vater mich vor die Tür."
"Sicher!" Ich lachte. "Und mir gibt er dann dein Zimmer!"
"Kann doch gut sein."
"Bist du dumm?"
"Dumm!", rief Minchen.
"Wer von uns beiden ist hier wohl das Arschloch, wenn's nach Richard geht?"
"Dumm!", wiederholte Minchen.
"Na toll!", meinte Manuel genervt. "Dann hat sie jetzt ja ein neues Wort gefunden, mit dem sie mir auf den Wecker fallen kann!"
"Dumm!", sagte Minchen erneut, jetzt noch lauter.
"Minchen!" Ich zog sie am Arm. "Lass das mal bitte!"
"Manel ist dumm!"
"Jetzt halt doch mal die Fresse, verdammt!", fuhr Manuel unsere Schwester an, da verstummte sie.
"Na also!" Manuel nickte zufrieden. Dann begegnete er meinem Blick.
"Was denn?" Er ließ die Achseln zucken. "Meinst du, ich lass mich hier verarschen?"
Als wir durch den Waschraum Richtung Hinterausgang liefen, trafen wir Sabine an, die stand gerade am Bügelbrett.
"Holst du noch die Tonnen von der Straße?"
"Dir auch einen guten Morgen. Und ja, mir geht's so einigermaßen", gab ich zurück. "In einem Bett hätte ich wohl besser geschlafen."
"Er ist noch ziemlich wütend heute." Sabine sah mich an, wirkte dabei wohl mindestens genau so platt, wie ich mich fühlte. Auch sie hatte gestern wohl gut was von Richards Frust abbekommen, wobei die Spuren von Richards letzter Prügel noch nicht mal ganz verheilt waren, das Veilchen unterhalb ihres linken Auges hatte sich erst vor kurzem von seinem anfänglich tiefen Blau zu einem launenhaften Gemisch aus Grün und Gelb verfärbt.
"Wäre wohl besser, du bleibst heute weg."
Ist mir nur recht, dachte ich. Auf Mehmets Sofa würde ich mir wenigstens keine Rückenschmerzen holen. Und wenn es mich irgendwo juckte, könnte ich einfach dran kratzen, das wäre mit Kabelbindern um den Handgelenken schon schwieriger.

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt