Der Zylinder

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Kapitel 13 | Yumi

- Der Zylinder -

Ich wollte nicht wahrhaben, wie der Tag bisher verlaufen war. Erst diese höllischen Schmerzen in meinem Kopf, wo ich keine Ahnung hatte, woher die überhaupt kamen. Dann dieser Kuss, der mich von diesen erlöste und gleichzeitig etwas Unbekanntes in mir weckte, das ich noch nicht in Worte fassen konnte. Und jetzt der verletzte Mann, den Taen wie aus dem Nichts geschlagen hatte und der eine gebrochene Rippe zu haben schien.
Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Dieses nervöse Pumpen meines Herzens, wenn ich neben ihm ging, und dazu ein kleiner Funken Furcht, wie er so ohne jede Hemmung einem anderen Menschen Leid zufügen konnte. Ich verstand ihn nicht. Und meine Gefühle auch nicht.
Wir hatten den Park verlassen und liefen eine wenig belebte Straße entlang, die uns zum Gotteshaus führte. Sie schlängelte sich zwar um mehrere Ecken und war so um einiges länger als der direkte Weg, wenn man flog, aber wir mussten laufen, schließlich durfte ich mich nicht als Engel zu erkennen geben.
Gabriel. Was würde er wohl sagen, falls er in diesem Moment auf diese Stadt hinunterblicken und mich sehen könnte? Schämte er sich für mich, weil ich so ein unbeholfener Engel war? Ich wünschte, ich bekäme von ihm ein Zeichen, was ich tun sollte, um so schnell wie möglich ins Himmelreich zurückzukehren.
Als ich diesen Gedanken jedoch gerade zu Ende gedacht hatte, spürte ich ein bedrückendes Gefühl in meiner Brust. Ich stieß kurz mit Taen aneinander und berührte seine Schulter. Hastig entschuldigte ich mich und ging einen Schritt vorneweg. Ich würde ihn nicht wiedersehen können, wenn ich im Himmel war. Diese Erkenntnis schmerzte, ohne dass ich es wirklich wahrnahm.

»Da sind wir«, sagte ich erleichtert. Wir hatten fünfzig Höhenmeter zurücklegen müssen. Auf einem kleinen Hügel inmitten der geschäftigen Stadt mit ihren dicht gedrängten Hochhäusern wirkte das Gotteshaus wie ein Ort der Ruhe, um zu Gott zu finden. »Dein Zylinder müsste noch im Gotteshaus sein. Könntest du den Mann vielleicht auf eine der Bänke legen? Ich werde den Priester suchen.«
Ich bemerkte ein Kopfschütteln seinerseits. Er legte den Menschen vor der Kirche auf den Boden und nahm Abstand von der Tür. Ich wusste, dass er es nicht so mit dem Gotteshaus hatte, das hatte ich ja bereits gemerkt. Aber ich konnte den Mann doch nicht selber da rein tragen, dazu fehlte mir einfach die nötige Kraft ohne meine Flügel, also musste ich ihn wohl dort liegen lassen, bis ich den Priester gefunden hatte.
»Magst du den Zylinder nicht schnell rausholen?«, fragte er mich. »Irgendwie wird mir wieder ganz komisch hier an der Kirche. Es muss an der Luft liegen.«
Ich nickte, ohne weitere Fragen zu stellen, erwiderte jedoch: »Ich werde zuerst den Priester suchen, dann hole ich deinen Zylinder. Du musst noch ein bisschen warten.« Danach öffnete ich die Tore des Gotteshauses und trat ein.
Sofort erfüllte eine lang ersehnte Ruhe meinen Geist und ich spürte inneren Frieden, während ich durch die Reihen der Bänke ging. Auf dem Altar stand ein großes Kreuz mit dem gekreuzigten Sohn Gottes. Ich verneigte mich vor ihm, hielt einige Sekunden inne und vernahm schließlich ein Knacken neben mir. Ich wandte mich dem Priester zu, der gerade aus einer Seitentür die heiligen Hallen betrat.
»Du bist es, Liebes«, sagte er beruhigt und kam langsam auf mich zu. Ich bemerkte, dass ihm eine Krankheit zu schaffen machte und beschloss, demnächst danach zu sehen. Doch erst musste ich mich um den Mann in der blauen Uniform kümmern.
»Entschuldigt die Störung, aber ich habe eine dringende Bitte«, meinte ich und wies zur Tür. Der Priester folgte meiner Geste und sah durch den Spalt der leicht geöffneten Tore die Beine des Menschen.
»Herr im Himmel«, sagte er erschrocken und eilte, so schnell ihn seine alten Füße trugen, hinaus. Für den ersten Augenblick erschrak er, als er Taen wiedererkannte. Danach widmete er sich jedoch sofort dem immer noch bewusstlosen Mann.
Ich hatte mich derweil kurz umgesehen und den Zylinder in der Nische entdeckt, in der Taen Rawen geschlafen hatte. Ich nahm ihn auf und begutachtete ihn. Er war niedriger, als ich dachte, und besaß an einer Seite eine Raubvogelfeder. Ein Tuch war umgebunden worden und mit kleinen Metallstückchen verziert. Ich fühlte eine seltsame Kraft, die von diesem Hut ausging, als ich ihn in der Hand hielt. Etwas begann erneut, gegen mein inneres Licht anzukämpfen.
Ich trat hinaus ins Sonnenlicht und überreichte ihm sein Erbstück. Ohne weiter darauf einzugehen, wandte ich mich dem verletzten Mann und dem Priester zu. Doch ehe ich mich vergewissern konnte, wie sein Zustand war, spürte ich eine Präsenz hinter mir, die mir einen beißenden Schauer über den Rücken jagte. Erschrocken drehte ich mich um und sah Taen Rawen, wie er seinen Hut aufgesetzt hatte. Ich musste unweigerlich feststellen, dass er mit seinem Zylinder auf dem Kopf um einiges düsterer wirkte. Sein selbstsicheres Lächeln, das er in dem Augenblick aufsetzte, als sich unsere Blicke trafen, verschlimmerte diese finstere Aura auch noch. Es schien geradezu, als ob er durch dieses Erbstück zu einer unheimlichen Stärke gelangt war, die ihm vorher gefehlt hatte. Er strahlte eine unglaubliche Kraft aus und ich spürte in mir ein warnendes Gefühl, das ich mir nicht erklären konnte. Ich stand auf und wandte mich ihm so zu, dass der Priester und der verletzte Mann nicht mehr in seinem Blickfeld waren und er nur mich ansah.
Er fror dieses selbstsichere Lächeln für einen ganzen Moment ein, was mich frösteln ließ, ehe es sich schließlich wandelte und freundlicher wurde. Dennoch blieb ich skeptisch. »Danke für den Zylinder. Was hast du nun vor? Ich würde gerne die Stadt erkunden. Willst du mich nicht begleiten?«
Ich sah ihn noch eine Weile abwartend an, da ich nicht sicher war, ob er es auch ernst meinte - es wäre eine gute Idee, ihn im Auge zu behalten. Andererseits musste ich mich um diesen Menschen kümmern, den Priester nach einer Unterkunft im Gotteshaus befragen und versuchen, Gabriel um Rat zu bitten. Ich durfte also nicht gehen. Trotzdem zögerte ich, was mich etwas verunsicherte, doch als der Mann plötzlich zu sich kam und vor Schmerzen aufstöhnte, konnte ich mich besinnen und schüttelte kaum sichtbar den Kopf. »Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Vielleicht ein anderes Mal?« 
Ich lächelte ihm freundlich zu, dass er verstand, dass es nicht an ihm lag, verneigte mich tief und wandte mich dem verletzten Menschen zu.

Auch Engel dürfen träumenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt