Gedankengänge

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Kapitel 14 | Taen

- Gedankengänge -

So streifte ich alleine durch die Straßen der großen Stadt. Die Menschen waren noch genauso geschäftig wie am Tag zuvor und die Sonne brannte erbarmungslos. Auch die Menschen hielten sich größtenteils im Schatten auf. Sie trugen leichte Kleider und ich überlegte tatsächlich, ob ich meinen Trenchcoat nicht ausziehen sollte. Die schmerzenden Sonnenstrahlen überzeugten mich jedoch vom Gegenteil und so ließ ich die verständnislosen Blicke über mich ergehen, anstatt zu verbrennen und auf diese Weise als niederer Geist in die Hölle zurückzukehren.
Ich hielt mich bewusst in der Nähe der Kirche auf, wohl wissend, dass ich mich sonst nur verlief. Yumi war bei dem alten Mann und dem Verletzten geblieben, wieder ein mir unerklärliches, überaus menschliches Verhalten. Diese Frau war mir das größte Rätsel, auf das ich bisher gestoßen war. Sie hatte eine seltsame Aura aus Leichtigkeit und Blindheit und schien trotzdem fast so unbeholfen wie ich in dieser Welt. Dazu diese Aufopferung ... falls sie mal sterben sollte, landete sie wohl nicht in der Hölle. Der Gedanke betrübte mich zum einen, machte mich aber auch glücklich. Und ein wenig neidisch. Es bedeutete, ich würde sie nach ihrem Tod nie wiedersehen. Das war wirklich zwiespältig. Was wäre für sie das Beste? Gar nicht erst zu sterben, dachte ich. Jemand musste auf sie aufpassen. Sie hatte etwas an sich, das eindeutig Gefahr anzog, und ich hatte ihr versprochen, sie zu beschützen. Mir war nicht klar, warum ich das überhaupt gesagt oder ihr diesen Kuss gegeben hatte. Um den Zauber zu wirken, wäre jede andere Berührung rechtgewesen, aber ein Kuss? Ich hatte die Kontrolle verloren. Ob es an dieser Welt lag? An dieser schwachen Menschenhülle? War ich jetzt etwa auch für menschliche Gefühle empfänglich!?
Augenblicklich verspürte ich den Drang, etwas zu tun, was quälte und verletzte. Etwas, das dem Menschsein widersprach. Etwas Böses!
Die beiden Menschen in der Gasse konnten mir leider keine Erleichterung verschaffen. Ein unscheinbares Schuldgefühl überkam mich für einen kurzen Moment, doch er verging, so schnell er gekommen war. Woher kam das? Weil ich Yumi enttäuscht oder gar den Mann verletzt hatte? Ich hatte ... tatsächlich ein schlechtes Gewissen? Ich!?
Verärgert verscheuchte ich den Gedanken. Ich brauchte Ablenkung und meine Schritte führten mich im Kreis um die Kirche herum. Hinter dem Gotteshaus gab es noch ein paar kleine Anbauten für Gerätschaften und Personal. Ein flaches Haus direkt neben dem Kirchenschloss beherbergte die Kammern der Messdiener, Priester und auch eine Küche samt Speisesaal. Ich war neugierig, was der alte Pfarrer für Leichen im Keller hatte und ob er wirklich so fromm war, wie er nach außen wirkte.
Ich schlich mich durch die Kirchgärten und näherte mich vorsichtig den Quartieren. Schnell warf ich einen Tarnzauber über mich und verbarg meine Aura darunter. Sicher war sicher, denn Yumi schien irgendwas gespürt zu haben, als ich meinen Zylinder zurückerhalten hatte. Ich huschte unter eins der Fenster und erblickte eine geräumige, aber karge Kammer.
Gerade als ich durch das offene Kammerfenster sah, ging die Tür auf. Reflexartig duckte ich mich, trotz der Tarnung. Langsam lugte ich über das Fensterbrett. Yumi hatte den Raum betreten und schaute sich um. Sie schien aufzuräumen und es wohnlich einzurichten, während sie sich murmelnd fragte, ob es mir wohl gefiel. Was dachte sie sich dabei? Sollte ich in der Kirche schlafen? Aber warum eigentlich nicht? So würde ich sie am besten im Auge behalten können.
Yumi hatte inzwischen zwei alte Truhen aufgeräumt, in denen sich abgestandene Öle und Schriftrollen befanden. Sie räumte ein Bücherregal frei, putzte den Tisch und wischte auch über einen verstaubten Stuhl. Das Bett bezog sie mit frischer Wäsche und ich erkannte deutlich, dass sie Spaß daran fand, alles sauber und ordentlich zu machen. Als sie damit fertig war, setzte sie sich auf das Fensterbrett. Im ersten Moment wich ich ihren Beinen perplex aus, näherte mich ihr daraufhin jedoch wieder und bemerkte, dass sie - ohne es zu wissen - durch mich hindurch den Nachthimmel und die Sterne anschaute. Sie baumelte ungeduldig mit den Beinen und flüsterte mehr zu sich selbst, ob ich überhaupt wiederkommen würde. Warum machte sich diese Frau nur so viele Gedanken um mich?
»Gabriel«, hörte ich sie murmeln, da sprang sie auf und verschwand aus der Kammer. Ich nutze die Gelegenheit und stieg leise durch das Fenster. Schnell warf ich einen Spruch über die Tür, der mich beim Öffnen wecken sollte, legte mich ins Bett und senkte meinen Tarnzauber. So schlief ich ein und war schon gespannt, ob Yumi mein plötzliches Auftauchen überhaupt bemerken würde.

Auch Engel dürfen träumenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt