Kapitel 15 | Yumi
- Gabriel erscheint -
Gabriel hatte mich gerufen. Ich hatte ihn ganz deutlich gehört und eilte zu den heiligen Hallen. Flüchtig vergewisserte ich mich, dass der Priester in seiner Kammer schlief, und öffnete hastig die Tore zum Gotteshaus, als ich ihn erkannte. Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, während ich leise die Flügeltüren hinter mir schloss und auf den Altar zuging. Er verneigte sich gerade tief vor dem Sohn Gottes. Ich tat es ihm gleich, ehe er sein Haupt erhob und ich ihm endlich wieder in seine wunderschönen, saphirblauen Augen sehen durfte.
»Yumi«, sprach er mit ruhiger Stimme und legte seine Hand an meine Wange. »Verzeih, dass ich nicht eher geantwortet habe.«
»D-Das macht doch nichts!«, versicherte ich schnell und schloss die Lider, während er mein Gesicht leicht streichelte. Ich hatte diese Zärtlichkeit vermisst. Aber jetzt war nicht die Zeit dafür. »Gabriel. Sag mir bitte, was ich tun muss. Wie kann ich mir einen neuen Pfad ins Himmelreich bahnen? Was sind meine Aufgaben auf Erden?«
»Yumi«, lächelte er sanft, »du nimmst deine Pflichten doch bereits wahr. Du schützt die Menschen vor dem Bösen und unterstützt sie, Gutes zu tun, sodass auch sie ihren Weg zu Gott finden.«
Ich nickte, obwohl ich nicht ganz verstand. Hatte er nicht gesehen, dass ich bisher nur Schwierigkeiten für Taen bedeutet und nichts aus eigener Kraft auf die Beine gestellt hatte?
»Yumi« Seine Stimme wurde ein wenig ernster. »Du darfst jedoch niemals Gottes Regeln vergessen. Wenn du sie nicht befolgst, wirst du dir keinen neuen Pfad erschaffen können.«
Ich überlegte kurz, welche Leitsätze er meinte und erinnerte mich nur an die zehn Gebote, die er den Menschen hinterlassen hatte, aber an kein Regelwerk, das für uns Engel galt. Ich wollte ihn gerade danach fragen, als er seine Arme um mich legte und mich an sich zog.
»Was rede ich da eigentlich«, murmelte er, »Du hast ja bereits in deinem früheren Leben einen Weg zu Gott gefunden.«
Ich versuchte, zuversichtlich zu lächeln, als er mich ansah. Gabriel nahm meine Hand und übergab mir eine große, meerblaue Kugel. Ich schaffte es nicht, meine Hand komplett um sie zu schließen. Ich sah ihn fragend an.
»Wie ich sehe, hat mein Schutzamulett seine Kraft verloren«, sagte er und schien gleichzeitig einen nachdenklichen Eindruck zu machen, weshalb das passiert sein mochte. Mir wurde klar, dass er doch nicht jede Sekunde auf mich hinabsah und es nicht wusste. »Diese Kugel wird dir erleichtern, mich zu rufen. Ich werde dich sofort finden können, egal, wo du dich aufhältst.«
»Wirklich? Egal wo? Auch wenn ...« Ich hielt inne. Sollte ich ihm erzählen, dass mich das dunkle Meer ein zweites Mal angegriffen hatte? Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich mich wieder an den Angriff der beiden Männer erinnern konnte, ohne dass mein Kopf schmerzte. Ich dachte daran, dass Taen mich geküsst und mir so meine Schmerzen genommen hatte. Bei dem Gedanken spürte ich dieses verrückte schnelle Schlagen meines Herzens und wie mir die Röte in die Wangen stieg. Ich drehte mich sofort von Gabriel weg. Ich wollte nicht, dass er sah, wie ich wegen eines Menschen verlegen wurde.
»Yumi? Alles in Ordnung?«
»J-Ja sicher«, sagte ich hastig und zwang mich, mich zu beruhigen, wandte mich zu ihm um und versuchte, mir mit einem Lächeln nichts anmerken zu lassen.
»Ich habe mir Sorgen gemacht, du könntest in Schwierigkeiten geraten sein, wo du doch noch so sehr mit den Menschen verbunden bist. Schön, dass meine Zweifel unbegründet waren - Ich bin stolz auf dich.« Ich spürte in mir ein stechendes Gefühl. Ich wurde für etwas gelobt, das nicht der Wahrheit entsprach. »Yumi«, fuhr er fort »Es gibt eine Aufgabe, die du innerhalb der Ausbildung zum vollwertigen Engel sowieso auf der Erde hättest erledigen müssen. Ich möchte, dass du dich dieser Pflicht annimmst, während du hier bist.«
Ich nickte leicht und Gabriel löste sich in gleißendem Licht auf, nachdem er mir gesagt hatte, um wen es ging und was meine Rolle sein würde.
Ich lief zurück zu der Kammer, die ich für Taen hergerichtet hatte, und schaute mir noch einmal auf dem Weg dorthin die Kugel an, die Gabriel mir gegeben hatte. Instinktiv hielt ich sie vor das Schutzamulett. Sie verschmolz mit der bereits integrierten Perle und setzte sich in sein Inneres.
Der Gedanke an ihn verdrängte meine Fragen rund um dieses Amulett vollständig und ich bemerkte, als ich durch das Fenster sah, die Wölbung unter der Decke. Er war wirklich gekommen! Ich stürmte freudig zur Tür, stoppte jedoch, ehe ich die Klinke berührte. Ich erinnerte mich an Gabriels Worte zu meinem nächsten Auftrag und spürte, wie ein Gefühl der Einsamkeit in mir aufstieg. Ich sank vor der Türe auf die Knie und begann zu weinen, ohne richtig zu verstehen, warum.
Ehe ich mich versah, war die Sonne aufgegangen und er würde bald aufwachen. Ich musste mich beeilen, wenn ich wollte, dass er mich nicht mehr zu sehen bekam. Ich stand auf und sah noch einmal hinein. Er hatte die Bettdecke von sich gestoßen und lag mit dem Kopf über der Bettkante hängend so da und schnarchte. Gedankenversunken legte ich meine Hand an die Fensterscheibe und warf ihm mit der anderen einen zärtlichen Luftkuss zu.
»Ich wünschte ...« Heiße Tränen liefen mein Gesicht hinab und ich sah, wie er wach wurde. In dem Moment streckte ich meine Flügel aus und schwang mich in die Lüfte.
»Ich hab dich gern«, flüsterte ich dem Wind zu, ehe ich in Richtung Stadt verschwand und das Gotteshaus hinter mir ließ.
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Auch Engel dürfen träumen
RomanceYumi erwacht im Himmel. Doch ein dunkles Meer versucht, sie zu verschlingen und in unergründliche Tiefen zu ziehen. Auf Geheiß von Erzengel Gabriel muss Yumi ihre Ausbildung abbrechen, auf die Erde zurückkehren und fortan unter den Menschen leben. V...