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„Schätzchen, du musst langsam mal was essen", richtet sich meine Oma wieder zu mir. Gerade stand sie noch vor dem Herd und hat in dem gigantischen Topf rumgerührt, aber jetzt tapst sie in meine Richtung und stemmt ihre Hände in ihre Hüpfte. Um ihren Hals ist die Schürze gebunden, die ich ihr vor Jahren mal geschenkt habe, mit der Aufschrift: „ Cooking Queen" und darunter eine lächelnde Avocado, die ich selbst gemalt habe.

„Ich kann nicht mehr", raune ich und starre abwesend aus dem Fenster. Es ist sehr windig und ich beobachte fasziniert, wie sich die großen Bäume hinter der Scheune hin und her wiegen. Leider ist es hier viel zu warm für Schnee, aber ich hoffe, dass ich ihn irgendwann mal sehen werde und nicht nur im Fernseher. Wie er unter der strahlenden Sonne glitzern würde und der Atmen vor einem Rauch bildet.

„Ach Piper Hase, du brauchst was auf den Rippen, damit du groß und stark wirst", sagt sie und streichelt mal Haar und schiebt danach den Teller vor mir noch ein Stück näher. Der duftende Geruch nach gebratenem Fleisch und Kartoffeln steigt mir in die Nase und mein Bauch grummelt flehend, aber ich kann nicht. Allein schon der Gedanke etwas zu essen bringt mich zum Würgen.

Ein großer Vogel fliegt am Fenster vorbei. Der ist frei, kann fliegen, ist an nichts gebunden und kann machen was er will. Seine Freiheit in vollen Zügen ausnutzen. Wieso beneide ich einen verdammten Vogel. Aber ich wünsche mir gerade nichts anderes, als einmal an nichts zu denken und mich richtig gehen zu lassen.

„Komm, geh wieder ins Bett, ich bringe dir später was", flüstert mir meine Oma zu und scheucht mich liebevoll aus der Küche. Mit schweren Schritten laufe ich die Treppen hoch, die unter meinem Gewicht knarzen. Schnell liege ich dann auch wieder im Bett und tauche wieder in meinen Gedanken ab.

Seit unserer Ankunft bei meinen Großeltern geistern meine Mutter und ich wie Tote durch das Fachwerkhaus. Sie sehe ich kaum noch, da sie ihr Zimmer nicht mehr verlässt. Ich hingegen versuche mich irgendwie abzulenken, um das Bild von Sam vor meinen Augen auszublenden. Aber es geht nicht. Mein toter Vater verfolgt mich in meinen Träumen und in meinem Kopf. Ohne Pause kämpfe ich gegen die Tränen an und verfluche Gott und die Welt.

Es wird f[r mich nie Sinn ergeben. Es ist nicht fair, dass es so enden musste.
Zu sehen, wie meine Mutter unter seinem Verlust leidet, macht den Schmerz noch nur schlimmer. Für mich ist Benjamin der schuldige, obwohl die Ermittlungen einen Selbstmord festgestellt haben. Sam wurde alles genommen und daran ist allein Benjamin schuld. Und zudem kann es doch kein Zufall sein, dass genau an dem Abend er nicht zu Hause ist, wo Sam sich angeblich das Leben genommen hat.

Aber er hat ein Alibi...

Seitdem hat er aber auch nicht versucht uns zu erreichen oder ähnliches. Es herrscht absolute Funkstille zwischen uns, als wäre ihm noch nicht mal aufgefallen, dass wir verschwunden sind. Aber darüber mache ich mir weiter keine Gedanken, denn bevor er hier auftaucht, müsste die Welt untergehen, aber selbst dann würde er es nicht machen.

Benjamin hat die Farm schon immer gehasst und ist nie länger als nötig geblieben. Ebenfalls war die Beziehung zwischen ihm und meinen Großeltern ist gerade die Beste, da er sich grundsätzlich schwertut mit „normal Bürgern". Wenn der Jahresumsatz nicht stimmt, dann ist die Person schon abgeschrieben. Für ihn zählt nur Geld und Ruhm, sowas wie Persönlichkeit oder Charakter kennt er nicht, da er ja selbst keinen besitzt.

Das Peitschen des Windes gegen mein Fenster schreckt mich aus meinen Gedanken. Seufzend kuschle ich mich tiefer in meine Decke und summe leise eine Melodie vor mich hin. Ein kleines Nickerchen würde mir schon nicht wehtun, aber bevor ich weiter in die Dunkelheit abdriften kann, lässt mich mein Klingelton aufschrecken.

Einfach ignorieren.

Zufrieden grinse ich leicht, als wieder Stille in den Raum zurückkehrt und drehe mich auf die anderen Seite. Dann klingelt es schon wieder und die Person legt nicht auf. Genervt drücke ich meine Augen noch fester zu, um endlich einzuschlafen, da klingelt es ein drittes Mal.
Mit einem fauchen werfe ich die Decke zurück und mache mich auf die Suche nach meinem Handy.

Just hold me tight and don't leave meWo Geschichten leben. Entdecke jetzt