Eine unerwartete Übernachtung

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Ich wachte auf und blickte aus einem Fenster in die Dunkelheit. Ich schaute mich um und sah, dass nichts da war, wo ich es gewöhnlich stehen hatte. Ich erkannte keinen einzigen persönlichen Gegenstand wieder. Da war ein Koffer den ich nicht kannte, eine Uhr, die ich nicht kannte und ein Regal voller Bücher. Der Aufbau des Raumes war genau wie bei mir, aber der Inhalt war mir vollkommen fremd und Annie war nicht da. Die Uhr zeigte 03:54 Uhr. Ich setzte mich aufrecht hin und versucht weitere Gegenstände in der Dunkelheit auszumachen, doch ich erkannte nichts, was mir ansatzweise vertraut wäre. Wo war ich?

Vorsichtig stand ich auf und stolperte dabei über etwas, was sich anfühlte wie Schuhe. Schnell fiel ich mit einem Krachen auf den Boden. "Fuck", murmelte ich und hielt mir mit vor Schmerz verzogenem Gesicht die Beine, die wie Feuer brannten. Kurz darauf sah ich, wie ein bisher unbemerkter Schatten, der in der Ecke geruht hatte, auf mich zukam und sich zu mir hockte um mir aufzuhelfen. "Alles okay?" "Jhin??"  Ich konnte erkennen, dass seine Silhouette nickte. Er zog mich vorsichtig hoch auf die Beine und ich warf meine Haare nach hinten. "Wieso-", setzte ich an, doch er unterbrach mich, indem er seinen Finger auf meine Lippen legte. "Nicht reden, schlafen." Verwirrt starrte ich ihn an. Als ob ich in so einer Situation schlafen könnte!

"Du solltest auch schlafen... Ich geh in mein Zimmer." Gerade als ich zur Tür gehen wollte hielt er mich am Arm fest. "Du weckst nur die anderen. Schlaf weiter. Ich passe auf." "Ich bin hellwach. Schlaf du lieber. Ich sollte echt in mein Zimmer." Er schüttelte leicht den Kopf und nahm mich in den Arm. "Aber du bist so warm", murmelte er. "Und ich will nicht, dass du Scheiße baust. Bleib bitte hier." Gemein. Er war verdammt gemein. In diesem Moment hätte ich ihm echt gerne die Meinung gegeigt. Wäre er nur nicht so warm... Und wäre seine Stimme nur nicht so angenehm... Mit einem erleichterten Seufzen erwiderte ich die Umarmung. So warm.... Bis mir dann einfiel...

"Moment, wie bin ich eigentlich in dein Zimmer gekommen?" Ich erinnerte mich nicht wirklich an den vorherigen Abend. Wärme stieg mir in die Wangen und meine Augen brannten. Er löste sich von mir und zwirbelte eine Strähne meiner blauen Haare um seinen Zeigefinger. "Weißt du nicht mehr? Du hattest ein Gespräch mit Shen und bist hier vollkommen aufgelöst aufgetaucht. Du bist in meinem Arm eingeschlafen." Seine Stimme klang sanft als er das sagte und ich schaute beschämt weg. "Achso.. tut mir Leid." "Alles gut. Jetzt leg dich wieder schlafen." "Aber ich will nicht."

Wir schwiegen ein paar Sekunden, dann seufzte er und setzte sich aufs Bett. "Kann ich dich nicht umstimmen? Du brauchst den Schlaf." Ich schüttelte den Kopf und setzte mich neben ihn. "Keine Chance. Schlaf du doch!" Er schüttelte auch den Kopf und lehnte sich an mich. "Nicht müde genug." So saßen wir da für Sekunden, Minuten, und die Zeit gefror. Vorsichtig nahm ich seine rechte Hand in meine linke und drückte sie. Er schaute mich mich mit halb geschlossenen Augen an und erwiderte den Druck, was mich zum lächeln brachte. "Immernoch nicht müde?", flüsterte ich und rückte ein wenig nach hinten um mich an die Wand zu lehnen. "Mhm", brummte er verschlafen. Grinsend legte ich vorsichtig seinen Kopf auf meinen Schoß, was zwar höllisch brannte und sich anfühlte wie tausend Nadeln, die gleichzeitig in meine Haut stachen, aber für ihn hielt ich den Schmerz gerne aus. Leicht dösend brummte er vor sich hin und ich musterte ihn, während ich mit aller Kraft meine Tränen runterschluckte.

Ich machte den Rest der Nacht kein Auge zu und musste mich anstrengen, keine Träne rauszulassen. Meine Augen brannten noch vom vorherigen Tag und ich wollte ihnen mal eine Pause von meinen ständigen Stimmungsschwankungen geben. Als Jhin aufwachte war es gerade 07:30 Uhr. Langsam öffnete er die Augen und erhob sich dann von meinem Schoß. Sofort fühlte ich das angenehme freie Gefühl, als wären die Nadeln ein Stück aus meiner Haut gezogen worden. "Guten Morgen", murmelte er verschlafen. "Guten Morgen." Ich zwang mich zu einem Lächeln. "Gut geschlafen?" Er lächelte auch. "Sehr sogar, und du?" "Ich hab nicht mehr geschlafen." Jhin sah mich schief an. Sein Blick musterte mich. "Wieso?" Ich zuckte nur mit den Schultern und stand auf, um mich auszuschütteln. "War ich zu schwer oder so?" Mit irritiertem Blick schüttelte ich den Kopf. Nicht er war zu schwer, sondern der Schmerz, der sich auf mich legte. "Ist auch egal, gehen wir frühstücken, ja?" Nach ein paar Sekunden Nachdenkzeit nickte er. "Ich geh mich nur schnell umziehen. Willst du einen Pullover von mir? Ist weniger kratzig als die von der Klinik." Ich nickte und er warf mir einen Hoodie zu, mit dem ich schnell ins Bad huschte. Dort schälte ich mich aus dem kratzigen Pullover und musterte mich kurz im Spiegel. Meine Rippen waren noch deutlicher zu sehen als zuvor und meine Taille wirkte schmaler als sonst.

Nachdem ich auch mein Seitenprofil unter die Lupe genommen hatte warf ich mir seinen kuschligen schwarzen Hoodie über, knüllte meine Haare zu zwei groben Zöpfen zusammen und betrachtete mich abermals im Spiegel. Ich sah so anders aus. Ich versuchte zu lächeln, streckte die Zunge raus, aber alles wirkte anders, irgendwie kälter. Letzten Endes ging ich mit einem unwohlen Gefühl aus dem Badezimmer und direkt zu Jhin, der bereits fertig an der Zimmertür auf mich wartete. "Alles ok?" Sein Blick wirkte besorgt und er nahm meine Hand. Ich zwang mich wieder zu einem Lächeln und nickte. Ich hoffte stark, dass mein Lächeln nicht so aussah, wie ich es im Spiegel gesehen hatte. Sowas wollte ich keinem antun.

Gemeinsam kamen wir in den Gruppenraum und holten uns beide unser Frühstück - er ein Brot, ich einen Apfel. Mehr bekam ich einfach nicht runter. Die ganze Zeit während dem Essen spürte ich die Blicke der anderen Mitpatienten auf mir ruhen, weswegen ich es nicht wagte meinen Kopf zu heben. Ich wurde wütend auf mich, dass ich immer irgendwas falsch machte und somit die anderen gegen mich aufhetzte. Ich wurde wütend, weil ich immer weiter abnahm und mich trotzdem abscheulich fühlte. Ich wurde wütend wütend wütend und doch so enttäuscht, weil ich wusste, dass alles meine Schuld war und immer sein würde. Wer sollte auch sonst Schuld sein?

"Wo warst du letze Nacht?", fragte Annie, die sich jetzt zu Jhin und mir setzte. Langsam auf meinem Stück Apfel rumkauend starrte ich weiter auf den Tisch. "Bei Jhin, mir gings nicht gut." Gelangweilt stand Annie wieder auf. "Achso, ich dachte du wärst abgehauen. Wie langweilig." Ich zuckte nur leicht mit den Schultern und kaute weiter auf meinem Apfel rum, wobei ich Jhins Blick auf mir nicht bemerkte. "Ich dachte es wär dir unangenehmer das zu sagen", murmelte er gerade so laut, dass nur ich es hören könnte. Ich zuckte erneut die Schultern und schaute ihn jetzt direkt an. "Was geht die denn mein Privatleben an? Sollen sie doch reden." Keine Ahnung wie ich das sagen konnte. Ich war innerlich ein Wrack. Ich hätte mich am liebsten komplett für alle anderen geändert. Wäre normaler geworden. Aber es ging einfach nicht.

"Gut zu wissen." Er grinste und legte vor aller Augen seinen Arm um meine Schultern. In diesem Moment wurde mir endlich bewusst, was ich doch für eine verdammte Lügnerin war. Ich wollte zwar seine Wärme, aber dass die anderen reden könnten bereitete mir Unbehagen. Ich wollte raus da. Ich wollte meine Waffen nehmen und irgendwas in die Luft jagen, einfach runterkommen, endlich wieder ich sein ohne das ganze >Was werden die andern denken<.

"Freust du dich schon auf die Entlassung?", fragte Jhin jetzt. Er schien zu bemerken, dass ich gedanklich woanders war. Ich grinste gespielt. "Total! In drei Tagen lassen wir dieses Loch hinter uns!" Er nickte, doch dann fiel ein Schatten über seinen Blick und er nahm seinen Arm von meiner Schulter. Dann flüsterte er "Du hast gelogen, was das angeht, oder?" und legte seine Hände in seinen Schoß. Überrascht sah ich ihn an. Ich hätte nie gedacht, dass das jemand erkennen würde, denn normal gab sich niemand die Mühe auch nur zu versuchen mich zu durchschauen. Ich nickte und schaute ihn schuldbewusst an. Ich vermisste die Wärme seiner Hand auf meiner Schulter unfassbar, aber nicht vor den andern. "Tut mir leid", murmelte ich, stand auf, warf meinen Müll weg und ging schnellen Schrittes in mein Zimmer und direkt ins Bett.

Mir war egal, dass erst 08:00 Uhr morgens war. Mir war egal, dass ich ihn einfach zurückgelassen hatte. Mir war alles egal. Sie war wieder da, die Leere. Sie war wieder da. Der Gedankenkreisel war wieder da. Schnell verkroch ich mich unter der Decke und zählte langsam, um bei Bewusstsein zu bleiben. Kaum war ich ruhiger und meine Gedanken leiser schlief ich ein.

Jinx - In Scherben gespaltenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt