Augen auf

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Das Wetter war gut, ihre Stimmung scheiße. Früher hatte sie immer gedacht, so etwas sei gar nicht möglich. Dass diese einfachen Gleichungen - Sonnenschein gleich gute Laune, Regen gleich schlechte Laune - fast etwas unverrückbares Gottgegebenes seien. Sie war noch jung, als sie das dachte, verstand entweder zu wenig oder zu viel vom Leben. Sie purzelbäumte freudstrahlend über den grünen Rasen ihres Elternhauses, buddelte tiefe Kuhlen am Strand oder hüpfte auf dem heißen Asphalt von einem mit Kreide gemalten Kasten zum nächsten. Ihre Augen funkelten dabei. Wenn es regnete, saß sie drinnen, schaute raus und fragte sich, wann sie endlich wieder Purzelbäume schlagen, Löcher buddeln und auf dem Asphalt hüpfen dürfe. Irgendwann jedoch - sie kann nicht genau sagen wann, es war vielmehr ein schleichender Prozess – hörte diese Gleichung auf zu stimmen. Die magische Beziehung zwischen dem Funkeln in ihren Augen und dem Lachen der Sonne verlor nach und nach ihre Gültigkeit, bis sie irgendwann fast überzeugt davon war, es hätte sie nie gegeben. Eine falsche Erinnerung, die man sich nachträglich selbst einredet, um einen Zustand zu haben, an den man sich zurücksehnen kann.

Vielleicht, denkt sie nun an diesem milden klaren frühherbstlichen Morgen, als sie aus dem Bett steigt und kurz davor ist, die Tür in einen weiteren Tag der Belanglosigkeit zu öffnen, vielleicht wird ausgerechnet heute aber auch alles besser. Glauben tut sie es selbstverständlich nicht.

Sie lässt die Tür ins Schloss fallen, wie immer leistet sie dabei keine Nachhilfe, sondern lässt der Tür beim Fallen alle Zeit, die sie dafür benötigt. Dann zückt sie den Schlüssel und führt ihn in das Schloss, dabei abermals denkend, wie skurril es doch sei, dass ein klitzekleiner Schlüssel ausreicht, um die größten Häuser und Paläste vor ungewünschten Besuchern zu schützen. Sie wünschte, so etwas gäbe es auch für ihr stürmisches Gedankenhaus, das vor allem an Morgen wie diesen so häufig von den miesepetrigsten Gästen, die man sich vorstellen kann, aufgesucht wird.

Sie mag ihren Weg zur Arbeit und stört sich daher gar nicht daran, dass er ziemlich lang ist. Natürlich mit dem Rad, wie sie das mit fast allen Strecken so handhabt. Nicht wegen Klima oder Gesundheit, eher wegen ihrer Abneigung gegen menschenüberfüllte Busse, Züge oder andere Mittel des Nahverkehrs. Sie war fast ein bisschen froh darüber, dass diese Abneigung gegen Menschen nach der Pandemie nun zum Mainstream geworden ist. Ein Punkt weniger auf der Liste, die sie tatsächlich einmal unter dem Namen „Warum Menschen mich komisch finden" erstellt hatte. Wie ein früher Fan einer noch unbekannten Band war sie ihrer Zeit voraus gewesen und hatte vor allen anderen Social Distancing abgefeiert. Aus Versehen cool geworden. „Ich habs ja immer gesagt" oder ein kurzes aber bestimmtes „Siehste" wäre sie nun schon gerne losgeworden.

Auch heute schaut sie pausenlos nach links und nach rechts, als sie die leere Landstraße entlang fährt und die weiten frischgrünen Felder mit den gemütlich mampfenden Kühen und gelegentlich kleine Seen und Flüsse an ihr vorbeiziehen. Einmal nur hat sie es wirklich gemacht. Sie ist kurz angehalten, hat ihr Rad an den niedrigen Holzzaun gelehnt, sich ihre Kleider restlos vom Leib gerissen und ist mit einer Arschbombe in den schönsten aller Bäche gesprungen. Satte 52 Minuten brauchte sie da für ihren Arbeitsweg, aber das war ihr in diesen nassen Momenten egal. Fast alles im Leben kann warten, außer das Leben. Kurzzeitig dachte sie damals, dass sie wieder da ist, diese Sonnen-Glücksbeziehung. Doch sie hatte sich getäuscht, danach ist sie nie wieder gesprungen.

Fünf Minuten vor Schluss müssen die Felder und Kühe hässlichen Häusern weichen, in denen hektische Menschen herumrennen, die nichts für die atemberaubende Schönheit einer in aller Seelenruhe kauenden Kuh übrig zu scheinen haben. Wie jeden Morgen stellt sie ihr Rad in den Ständer neben der Eingangstür, die sich schon automatisch öffnet, so als wolle sie ihr signalisieren: Mach zu, ran an die Arbeit! Frau Meier begrüßt sie in ihrer bekannten charmanten Art – gar nicht. Als sie schon fast in den Untersuchungsraum eingetreten ist, dreht sie sich im letzten Moment um und hört aufgrund praktischer Gründe auf, Lenas Existenz zu ignorieren. Sie müsse gleich weg, private Gründe, und für 9:30 hat sich spontan ein neuer Kunde für einen Sehtest angekündigt. Schaffst du das? Lena bejaht und hört damit fürs Erste wieder auf in Frau Meiers Welt zu existieren, was sie nicht weiter stört. Im Gegenteil, ihr gefällt dieses stumme Arbeitsumfeld, das sich in „Meier – Optiker mit Durchsicht" etabliert hat. Und überhaupt, ist sie Frau Meier nicht zu Dank verpflichtet, da diese die antriebslose fachfremde Langzeitstudentin nach ihrem Studienabbruch und einjährigem Nichtstun aus unerklärlichen Gründen eingestellt hatte?

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