Es war ein anständiges Mietshaus in der ständig unanständigen Großstadt. Anonym und doch anständig, ja sogar ein wenig spießig. Gepflegter kleiner Vorgarten, sauberes Treppenhaus, nette Mieter und sogar der Platz an dem die Mülltonnen standen war mehr als sauber. Er war rein, fast schon steril. Es schien der Werbebroschüre einer Immobilienfirma entsprungen zu sein.
Nur einer passte nicht hier her, das wussten alle. Jedenfalls waren sie davon überzeugt. Nicht das er einen Gegensatz darstellte. Nein,, er war noch netter, noch sauberer und noch ruhiger als der ganze Rest des Hauses.
Er war vor fast einem halben Jahr hier eingezogen und es gab nicht einen Grund sich zu beschweren. Keine laute Musik, keine Feiern bis in die Nacht oder dergleichen störte den Hausfrieden. Ja, er beteiligte sich nicht einmal an dem Tratsch in der Nachbarschaft. Er las viel, das hatte die Beobachtung der Altpapiertonne schon ergeben. Viel zu viel, da war man sich einig. Es musste ein Intellektueller sein, ein Streber. So einer, den man in der Schulzeit mied, verhöhnte und der immer ein Außenseiter war. Jemand, der für etwas geheuchelte Freundlichkeit die Hausaufgaben der Anderen gemacht hatte. Ein Außenseiter also der es nicht für nötig erachtete, sich mit den normalen Mietern abzugeben. Vielleicht ein Student, da er ja nur zu Miete wohnte. Aber dafür war er eigentlich zu sauber, zu anständig.
Man sah in stets nur kurz. Meist lächelte er und wenn es früh am Tage war, dann sagte er nur kurz: "Guten Morgen". "Guten Tag" sonst und kam es mal zu einer der seltenen fast schon auszuschließenden Begegnungen am Abend oder gar zu noch späterer Stunde, dann ein "Guten Abend". Es klang irgendwie gebrochen, aber er war kein Ausländer. Das hatte man schon irgendwie herausgefunden. Trotzdem war er ihnen unheimlich und langsam begannen sie ihn für sein Anderssein zu verachten und jede noch so zufällige Begegnung zu vermeiden.
Einige Zeit verstrich und jeder Tag war wie der Andere. Da passierte es. Ein Heizungsrohr war defekt und das ausgerechnet in seiner Wohnung. Es musste, es konnte nur Absicht gewesen sein. Wasser quoll aus Wänden und der Decke, nicht fließend und im Schwall, nur tröpfelnd, stetig und so auch schädigend. Es war in der Zeit, zu der er immer nach Hause kam. Er bog um die Ecke nichtsahnend, still und ruhig, wusste nichts von seinem Glück, als er die Haustür aufschloss. Man erwartete ihn schon. Einzelkämpfer und Grüppchen, jeder mit Worten bewaffnet um ihm wehzutun. Es ihm endlich mal zu zeigen in diesem ständig anständigen Haus. Ein Schwall von Drohungen, Flüchen und Beschimpfungen ergoss sich über ihn, als er endlich den Absatz erreichte, glücklich wieder zu Hause zu sein und in Sicherheit. Als er selbst nur wieder mit einem "Guten Abend" und einem gewohnten Lächeln antwortete, kam es fast zu einer Explosion, als ob lynchen wieder in Mode gekommen wäre.
Endlose Sekunden später bemerkten sie sein Hände, die wie will gestikulierten und ihnen etwas zu sagen versuchten, in einer Sprache, die niemand im Haus verstand oder gar beherrschte. Keine Fremdsprache für ihn, eine Sprache die jeder lernt, der nicht richtig hören oder sprechen kann. "Guten Morgen, guten Tag und guten Abend" und einige wenige andere Worte hatte er mühsam gelernt um nicht immer aufzufallen, um nicht immer anders zu sein, weil er oft auf Unverständnis, Mitleid oder gar Gelächter gestoßen war.
Und so wie er sich oft geschämt hatte, so ergriff diese Scham jetzt alle anderen anständigen Bewohner des Hauses um ihn herum. Lautlos schlichen sie von dannen. So still und leise, wie er es selbst nie vernommen hätte.
Jetzt erkannten sie, dass er zwar anders war, aber nicht besser, nicht schlechter und einfach nur anständig. Was immer das bedeuten sollte...