Heute ist ein grauer Herbsttag und die Blätter wehen stürmisch über den Hof. Wenn man überlegt, dass ich im Norden Englands wohne, ist das nichts außergewöhnliches. Ungefähr dreiviertel des Jahres bestehen aus Sturm, Regen und Kälte. Mein Leben ist aber keineswegs so grau wie das Wetter. Ich bin Poetin und schreibe für mein Leben gern. Nun, da ich eine Frau bin, ist es mir verwehrt meine Gedichte zu veröffentlichen, träume aber schon mein Leben lang davon eines meiner Werke in der London Times zu lesen. Die Leute würden es lieben und in ihre schlichten Leben mal wieder etwas Farbe bringen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie aber niemand zu Gesicht bekommen wird außer meine besten Freundin Sue. Sue und ich kennen uns schon unser ganzes Leben lang. Wir sind Nachbarn. Sie hat wunderschönes, langes, dunkles Haar, tiefblaue Augen, eine zarte Statur und volle Lippen. Ihre Tante ist kürzlich an der Grippe verstorben. Deswegen besuche ich sie noch öfter, als üblich. Mit Sue's Tante ist jetzt auch die letzte Verwandte von ihr unter die Erde gegangen.
Ich bin gerade auf dem Weg in den Saloon, als mir mein Bruder Thomas auf dem Flur begegnet. Er ist 2 Jahre älter als ich und studiert Kaufmannsdasein, um in die Fußstapfen meines Vaters zu treten. Tom ist zu besuch, denn morgen feiert meine kleine Schwester Annie Geburtstag. Sie wird 15 und hat an die 200 Gäste geladen, von denen ich über die Hälfte nicht kenne. Die Vorbereitungen sind im vollem Gange und es ist eine 5 Stöckige Torte geplant. "Gwennie, wo hin des Weges?", fragt Tom mich skeptisch. "In den Saloon, Mutter beim dekorieren helfen." entgegne ich. "Gut, sie hat gerade nach dir gefragt. Ach und Sue ist auch da-" "Sue? Verdammt!". Thomas guckt mich mit fragenden Augen an. Ich habe ganz vergessen, dass Sue und Ich heute Morgen an der alten Eiche treffen wollten. Die alte Eiche steht 50 Meter von unserem Anwesen entfernt und wir beide verbringen dort schon gemeinsam Zeit, seit dem wir klein sind. Eigentlich war für heute ein Pick-Nick zu Zweit geplant, doch Ich habe es komplett vergessen. Es ist mittlerweile später Vormittag und ich stürme so schnell, wie es geht an Tom vorbei und sprinte die Treppe runter. Das tat ich so schnell, dass ich auf den letzten paar Stufen stolperte, mich aber kurz vor dem Boden noch fangen konnte. Ich schwing um die Ecke zum Saloon. Dort stand sie, Sue. Sie hält gerade ein Silbertablett mit kleinen, fein verzierten Pralinen in den Hände und sieht mich mit ärgerlichen, aber zugleich perplexem Blick an. "Gwendolyn Hill!", rief es aus der Ecke des Raumes. Es war meine Mutter. "Wo steckst du den ganzen Tag? Hast du wieder eines deiner Gedichte geschrieben? Wir brauchen dich bei den Vorbereitungen.". In der Tat hab ich ein paar kurze Gedichte verfasst, diese aber sofort wieder weggeschmissen. Meine Mutter hält nicht viel von gebildeten Frauen. Frauen müssen zur Hausfrau erzogen werden und ihren Ehemännern stehts gefallen. Ich wende mich Sue zu :"Ähhh-" stammelte ich, "Sue, es tut mir so unendlich leid, ich hab unsere Verabredung total vergessen. Du hattest bestimmt schon alles vorbereitet, ich-" Sie unterbrach mich:" Gwen, alles halb so wild. Mach dir keine Gedanken, ich konnte eh nicht mehr als ein altes Stück Käse und ein wenig Brot auftreiben." Ihre Stimme war sanft, aber ehrlich. Ich hatte sie schon so oft sitzen lassen, aber sie ist trotzdem nie wütend oder traurig geworden. Wahrscheinlich hat sie sich schon dran gewöhnt. "Übernachtest du dann heute bei?", fragte ich sie grinsend. Sue nickte und wir umarmten uns. Als ich mich umdrehte kam Jake in den Raum. Er ist mein Verlobter. Seine Klamotte sind ganz durchnässt und er hängt seinen Mantel an die Geradrobe. Unsere beiden Väter haben diese Verlobung arrangiert. Jake ist ein guter Mann. Er ist aufmerksam, mag Kinder und sieht attraktiv aus. "Gwennie", sagte er und gibt mir einen Kuss auf die Wange. Ich folgte ihm in den Saloon. Als meine Mutter ihn sah legte sie die Girlande bei Seite und fragte :"Jake, du bist ja ganz nass. Möchtest du etwas essen? Wir haben noch ein wenig Braten in der Küche. Ich kann ihn dir holen." "Vielen Dank, Miss Hill. Ich habe schon Zuhause zu Mittag gegessen.", gab er zurück und schnappte sich eines der Tabletts mit Spirituosen. "Ach Jake, nennen sie mich ruhig Hilda.", sagte meine Mutter verlegen. Ich nahm mir auch ein Tablett und half bei den Vorbereitungen.
Später am Abend, als wir endlich fertig waren, das Abendbrot schon vom Tisch geräumt war und Jake nach Hause gegangen war, gingen Sue und ich zu mir ins Zimmer und legten uns auf mein Bett. Ich hatte zum Glück genug Platz für zwei Personen, sodass wir keine zweite Matratze brauchten. Eine Weile langen wir einfach da und horchten unserem Atem. Nach einer halben Ewigkeit konnte ich es dann nicht mehr zurück halten. "Sue, ich kann Jake nicht heiraten. Er ist fast 10 Jahre älter als ich und ich empfinde nichts für ihn. Ich bin doch selbst noch ein Kind. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und lächelte mich an. "Die rebellische Gwendolyn Hill lässt sich von einer Hochzeit einschüchtern?" ich guckte sie nun auch an: "Das ist es nicht. Ich kann das einfach nicht." Sue setzte sich jetzt auf und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. "Du bist die mutigste, wundersamste und klügste junge Frau die ich kenne. Dich wird eine Hochzeit nicht aufhalten. Da hat dich schon ganz Anderes aus der Bahn geworfen." Aber mich bedrückte noch etwas ganz anders: "Aber die ganze Verantwortung. Ich kann mich doch nicht um einen ganzen Hausstand kümmern, wenn ich es nicht man schaffe mein eigenes Zimmer sauber zu halten." Ich deutete mit den Augen auf meinen, mit zerrissenen Gedichten gefüllten Papierkorb. Sue sah mich jetzt noch intensiver an. Sie beugte sich vorsichtig vor und gab mir einen Kuss auf den Mund. Ich schloss die Augen, erwiderte diesen und zog sie weiter in meine Richtung, bis sie fast auf mir lag. Sue fasste mir in die Haare und mir war so, als würden 1000 Feuerwerke in mir explodieren. Nach einer Weile ließen wir von einander ab und legten uns wieder nebeneinander. Ich liebe Sue und alle meine Gedichte sind ihr gewidmet. Ich könnte Jake nie heiraten und dann mit ihm wegziehen.
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Another Century
Historical FictionWir schreiben das Jahr 1865. Die 17 Jährige Gwen Hill, Tochter des angesehenen Kaufmanns Joseph Hill, wurde gerade einem jungen, gutaussehenden Mann versprochen. Er macht ihr Aufmerksamkeiten, kümmert sich liebevoll um sie und ist einfach ein Traum...