SECRET DESIRE

62|Besuche, Proteste und Wiedersehen

D E M I R

Den sterilen Geruch von Krankenhäusern möchte ich noch nie. Selin hingegen liebt es, doch mir stellen sich die Nackenhaare auf und ich würde am liebsten eine Weile nur noch durch den Mund atmen, um es nicht riechen zu müssen.
Für mich riechen Krankenhäuser immer nach Tod.
Die weißen Flure und Möbel helfen da auch nicht sonderlich weiter. Ich komme mir vor, als würde ich durch das Vorderzimmer zum Himmel gehen, während ich den bekannten Gang mit den bekannten Bänken, die wie üblich leer sind, hinter mir lasse und vor der breiten Tür stehen bleibe.

Der Herzschrittmacher ist wie immer zu hören, als ich eintrete und vor allem erst meine Hände an dem Desinfektionsspender neben der Tür desinfiziere. Sein Herzschlag ist weder schnell noch langsam.
Es ist einfach nur da -sowie er.

„Hallo Baba.", begrüße ich ihn munter und gehe um das Bett herum, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken, weil das die einzig freie Stelle in seinem farblosen und abgemagerten Gesicht ist.
Mein Vater hatte schon immer hohe Wangenknochen und scharfe Gesichtskonturen wie das markante Kinn, das ich alles von ihm geerbt habe, aber jetzt sieht es an ihm nicht mehr gesund aus wie betont seine Knochen sind.

Seit vier Jahren stirbt er vor sich hin und ich kann es ihm nicht erleichtern, indem ich den Ärzten sage, dass sie die zig Geräte, die hier stehen und ihn am Leben halten, abstellen sollen. Es geht mir nicht über die Lippen. Welcher Sohn könnte das denn? Ich wäre schuld an seinem Tod.

„Ich habe vor ein paar Tagen mit Selin telefoniert.", erzähle ich ihm und lege meinen Mantel auf den freien Stuhl im Raum,„Sie lernt gerade für ihre Prüfungsphase, die bald beginnt. Ich glaube ihr das zwar nicht wirklich, aber sie schwört darauf, dass sie kaum von ihren Büchern aufsieht."
Mit einem kleinen Lächeln sehe ich ihm ins Gesicht, doch er sieht mich natürlich nicht. Seine Augen sind geschlossen.
„Sie will über Weihnachten hierherkommen, also mach dich gefasst. Ich sehe das Chaos, das sie anrichten wird bereits vor mir, aber es ist wohl besser, wenn sie hier Chaos anrichtet, statt drüben in London, wo sie niemand aus dem Mist rausholt."

Das alles habe ich ihm das letzte Mal schon erzählt, als ich hier war, aber ich beginne immer erst von Selin zu erzählen, dann von Kerem und meiner Tante und letztlich von mir, wenn es etwas gibt. Das ist, was die Ärzte von mir verlangt haben. Dass ich über belangloses und unproblematisches Zeug spreche und ihn massiere, weil er schon so lange liegt und seinen Körper kaum noch spüren muss.

Ich lege die Hände unter seine Schulter und hebe ihn ein wenig vom Bett ab, wie es mir gezeigt wurde. In kreisenden Bewegungen, die kaum spürbar sind, beginne ich seine Arme zu massieren und ihm das Gefühl seiner Gliedmaßen wiederzugeben.
Wenn er jemals aufsteht, dann wird er nicht mehr so laufen können, wie früher. Er wird das Laufen verlernt haben und vorerst in einem Rollstuhl sitzen müssen. Mein Vater war immer voller Energie und es wird ihm das Herz brechen, wenn er merkt, dass er nicht mehr alleine stehen kann.

„Gestern hatte ich Bewerbungsgespräche für die Stelle als meinen persönlichen Assistenten gehabt und es war wirklich nicht, was ich erwartet habe.", gestehe ich und gehe um das Bett herum, um auch seinen anderen Arm massieren zu können,„Frau Acar konnte sich auch gar nicht raushalten!" Ich greife zwischen all die Kabel, um seinen Arm zu berühren.
Ich sehe wieder in sein schlafendes Gesicht, das keine einzige Regung macht.
„Ich habe dir noch gar nicht von ihr erzählt.", meine ich und seufze,„Sie ist die Frau, die meine Hand gebrochen hat, erinnerst du dich? Das war im August, am dreißigsten, und heute ist der neunzehnte Oktober. Wir haben 2021, Baba." Wieder keine Regung.

„Jedenfalls hat sie, wegen Kerems üblichem Talent mein Leben zur Hölle zu machen, angefangen bei mir zu arbeiten. Sie war erst meine Assistentin, aber jetzt ist sie Modedesignerin bei mir, weil sie wirklich begabt ist.", fasse ich es ihm so knapp wie möglich zusammen, weil es viel zu lange brauchen würde, wenn ich ihm nun die ganze Geschichte mit Frau Acar erzählen würde,„Wenn du aufwachst, dann erzähle ich dir alles ausführlicher."