Während er durch die belebten Straßen der Innenstadt lief, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben, versuchte Sam sich zu erinnern, was er über Jason Dunham gelesen hatte.
Den Zeitungsartikeln nach war der Mann von Beruf Buchhalter gewesen, was an sich kein besonders aufregender oder gar gefährlicher Job war, weshalb Sam es ausschloss, dass er seinem Mörder auf diesem Weg begegnet war.
Er erinnerte sich allerdings auch daran, etwas von einer Suppenküche und einer Anlaufstelle für obdachlose Jugendliche gelesen zu haben, in der Dunham sich engagiert hatte. Wenn er irgendwo Informationen über zwei minderjährige Mädchen auf der Flucht bekommen würde, dann mit Sicherheit dort.
Sam erkannte das Mehrfamilienhaus, in dem Dunham gelebt hatte, schon von weitem an der großen Anzahl von Blumen und Kerzen, die die Leute auf die Stufen vor dem Eingang gestellt hatten.
Viele hatten Zettel oder Karten mit Dankesbekundungen und Abschiedsgrüßen hinterlassen, und Sam konnte an den Handschriften erkennen, dass auch etliche Schreibanfänger unter ihnen gewesen waren.
Ein Begriff tauchte dabei in ihren Nachrichten immer wieder auf – die Abkürzung NWYC.
Sam wusste damit nichts anzufangen, aber er spürte, dass er auf dem richtigen Weg war.
Ein Stück die Straße hinunter lieh er sich in einem Café das Telefonbuch aus, um unter N nach der Abkürzung zu suchen.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis er eine Antwort hatte – und eine Adresse.
Das North West Youth Center lag etwa eine halbe Stunde von Dunhams Wohnung entfernt und war gerade dabei, seine Kantine zu öffnen, als Sam dort ankam.
Um nicht aufzufallen, reihte er sich in die Schlange der wartenden Kinder und Jugendlichen ein, die gekommen waren, um sich eine kostenlose, warme Mahlzeit abzuholen. Während er wartete, dass er an der Reihe war, musste Sam mit aller Mühe den Impuls unterdrücken, sich immer wieder neugierig umzusehen. Er hatte sich noch nie in einer solchen Umgebung bewegt und fragte sich, welche Schicksale sich hinter den hungrigen und erschöpften Mienen der Jugendlichen um ihn herum verbargen. Die meisten schienen etwa in seinem Alter oder nur wenig jünger zu sein, doch er sah auch Kinder, die kaum älter sein konnten, als seine Schwestern, und Sam musste die Zähne zusammenbeißen, weil ihn die Tatsache, dass die Gesellschaft so etwas zuließ, so wütend machte.
Und er fragte sich plötzlich, ob es ihm ähnlich ergangen wäre, wäre er als Baby nicht von dem liebevollen, jungen Paar adoptiert worden, das er auch heute noch seine Eltern nennen durfte...
„Du bist neu hier", hörte er auf einmal eine Stimme und Sam hob überrascht den Blick.
Er hatte mittlerweile den Anfang der Schlange erreicht und stand einer jungen Frau mit dunklem Haar gegenüber, die ihm über den Tresen hinweg ein Tablett mit Besteck in die Hände drückte.
„Ja", antwortete er einsilbig und senkte den Kopf. „Zweiter Tag."
„Ich verstehe", sagte sie voller Mitgefühl. Dann fügte sie hinzu: „Ich bin Laura. Und wie heißt du?"
Er zögerte einen Moment. Seinen echten Namen zu verwenden, war vermutlich nicht die beste Idee, also griff er auf seinen Zweitnamen zurück. „... Billy."
Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln.
„Okay, Billy", erwiderte sie. „Willkommen im NWYC. Heute gibt es leider nicht viel, aber ich hoffe, es reicht trotzdem, um deinen Hunger zu stillen."
„Danke, Laura", sagte Sam und lächelte schwach. „Es wird schon genug sein."
Während er weiter durch die Essensausgabe geleitet wurde und sich das Tablett in seinen Händen mehr und mehr füllte, bekam er ein immer schlechteres Gewissen. Er sollte nicht hier sein. Er hatte eine Familie und ein Dach über dem Kopf, er war nicht auf die Mahlzeit angewiesen, im Gegensatz zu all den anderen, die hier versammelt waren.
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Wayward Son | (Dean x Sam)
FanfictionDas Leben des 17-jährigen Sam Wesson ist zwischen Schule, Nebenjob und der Vorbereitung auf die Universität eher eintönig - bis er eines Abends einem gutaussehenden Fremden begegnet, der ihm die Augen für eine Welt öffnet, von deren Existenz Sam nie...