Rituale

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„Du hast Jedaja nicht gegrüßt", ermahnte ihn der Vater und riss Jonathan jäh aus seinen Gedanken.

„Es tut mir leid", erwiderte Jonathan mechanisch und ohne etwas zu empfinden.

All die Menschen, die von den Römern niedergemetzelt worden waren. Und warum? Weil sie Menachem eine Nacht lang beherbergt hatten. Der Maskil. Eigentlich war es sein Freund Silas gewesen, der den Lehrer zuerst predigen gehört und um Aufnahme in den Kreis seiner Jünger gebeten hatte. Sie nannten sich Essener, Erfüller der Torah, und lebten in selbstgewählter Armut. Silas hatte Jonathan von den Worten des Maskils erzählt und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er gespürt, dass er mit seinen Ideen nicht allein war.

Unterdessen hatten sie den Siloach-Teich erreicht und ihre Positionen eingenommen. Als Verwalter des Tempelschatzes stand Schlomo deutlich weiter vorne als sein Sohn, was Jonathan ganz recht war. Er fühlte sich freier und außerdem hatte er auf diese Weise einen besseren Blick auf die Mädchen, die heuer zum ersten Mal Wasser, Zweige und den Paradiesapfel zum Tempel tragen durften. Nun ja, eigentlich genügt es mir, einen besseren Blick auf ein bestimmtes Mädchen zu haben, dachte er und lächelte, ungezwungen, wusste er doch, dass die unerbittlichen Augen seines Vaters nun nicht mehr auf ihm ruhten.

Doch noch waren die Jungfrauen nicht eingetroffen, in der Menge wurde getuschelt, Schlomo und die übrigen Priester standen regungslos und majestätisch vor dem Volk. Die Anordnung war respektvoll auf Hyrkan hin ausgerichtet, der sich selbstgefällig von seinen Untergebenen huldigen ließ. Dass sein Bruder und erbittertster Feind Aristobulus seit einiger Zeit wieder im Land sein sollte, schien ihn nicht zu stören. Sein Bart triefte geradezu von den kostbaren Ölen, mit denen der Hohepriester der Tradition entsprechend für das Fest gesalbt worden war. Der feine Leibrock unter dem prächtigen Ephod spannte über dem fetten Wams des Regenten. Und das, obwohl man ihn erst vor kurzem weiter machen hatte lassen, wie Jonathan von Tabitha wusste. Die kleinen Augen in dem aufgedunsenen Gesicht wirkten ausdruckslos und gelangweilt.

Wie anders Menachem ist, ging es Jonathan durch den Kopf. Ein leidenschaftlicher und dabei doch bescheidener Gottesknecht. Wie ungezwungen er auf die Menschen zugeht. Für jeden ein freundliches Wort hat. Am Anfang hatte Jonathan seinem Vater von Menachem erzählt, doch der hatte nur mit Herablassung und Verachtung reagiert. Auch hatte er ihm verboten, den Lehrer wieder aufzusuchen. Als Jonathan protestiert hatte, hatte er ihm in Anwesenheit der Diener ins Gesicht geschlagen. Und das obwohl er nichts von Ohrfeigen hielt. Vermutlich weil davon nichts in den Heiligen Schriften steht, dachte Jonathan zynisch. Doch er konnte sich an der Ironie seines Gedankens nicht freuen. Schlag deinen Knaben mit der Rute und du rettest seine Seele vor dem Scheol, zitierte er unwillkürlich. Das nämlich war ein Vers aus den Heiligen Schriften, den ihm der Vater gut beigebracht hatte.

Jedenfalls lehnte Schlomo es ab, seinen Sohn mit der bloßen Hand zu schlagen. Weil sich die Kraft nicht präzis dosieren lässt, hatte er Jonathan erklärt. Und weil es zu viel an Nähe bedeutet, hatte der sich im Stillen gedacht, sich nicht so kalt und mechanisch exekutieren lässt wie die Hiebe mit der Rute. Außerdem schickte er für gewöhnlich die Diener fort, denn er legte Wert darauf, seinen Sohn nicht vor dem Personal zu erniedrigen. Dafür zumindest war ihm Jonathan dankbar. Zwei Mal war es ihm bis jetzt gelungen, seinen Vater so wütend zu machen, dass er seine Überzeugungen aufgegeben hatte. Einmal, der Gedanke an seinen damaligen Optimismus kostete Jonathan nunmehr bloß ein Schulterzucken, als er Schlomo mit vierzehn erklärt hatte, dass er nun für die körperliche Züchtigung zu alt sei, und einmal, als er eben darauf bestanden hatte, Menachem weiterhin beim Predigen zuzuhören. Selbstverständlich hatte der unbeherrschte Ausbruch dem Vater damals nur als Auftakt für die eigentliche Züchtigung gedient. Und selbstverständlich hatte Jonathan in keinem Augenblick ernsthaft daran gedacht, dem Verbot Folge zu leisten. Dass weder das Ja-Vater noch das Ich-gelobe-es-euch aufrichtig gesprochen waren, musste Schlomo gespürt haben, denn er hatte in den darauffolgenden Wochen immer wieder die Rute hervorgeholt, um Jonathan daran zu erinnern, dem Lügenprediger, wie er Menachem verächtlich nannte, fern zu bleiben.

Zuletzt vor ein paar Tagen an einem Abend, als er eigentlich Tabitha hätte treffen wollen. Nun denn, er würde sie heute sehen, und die Striemen, die sein Gesäß und die Oberschenkel überzogen, hatten ihre beißende Kraft schon eingebüßt, kurz davor ganz zu verheilen schienen sie noch einmal mit einem unangenehmen Kratzen aufzubegehren. Jonathan hasste dieses Beizen der alten Wunden fast noch mehr als den frischen brennenden Schmerz, denn es nährte in ihm den Wunsch, die Hände auf die juckenden Stellen zu legen. Und wenn er etwas nicht wollte, dann war es, sich wie ein kleiner Junge mit den Händen den Hintern zu reiben. Das wäre ein ungeheuerlicher Mangel an Selbstbeherrschung gewesen und Selbstbeherrschung war Jonathan überaus wichtig, eine Vorliebe zumindest, die er mit seinem Vater teilte. Am Abend des Sukkot-Festes jedenfalls, als die Mädchen sich endlich dem Volk zeigten und mit ihren langen weißen Kleidern und den wallenden Schals wie kleine verzauberte Windgöttinnen aussahen, fiel es Jonathan leicht, sich vom Kratzen der verblassenden Striemen abzulenken.

Ganz besonders, weil Tabitha nur wenige Meter schräg vor ihm einen Platz eingenommen hatte, sodass er sie während der ganzen Prozession, die sich dank dem schwerfälligen Schritt des korpulenten Hohenpriesters unnatürlich in die Länge ziehen würde, ungestört beobachten konnte. Sie hatte sich für den heutigen Festtag hübsch gemacht, das war offensichtlich, mit Henna die Konturen ihrer großen ausdrucksstarken Augen nachgezeichnet, das Haar kunstvoll geflochten. Und das obwohl sich Tabitha normalerweise nicht viel aus ihrem Aussehen machte. Während seine eigenen Schwestern ihn vor jeder Reise bedrängten, die Märkte nach den neuesten Stoffen zu durchforschen, verachtete Tabitha schöne Kleider und Schmuck, kurzum alles, was das Leben einer Frau noch umständlicher machte, als es ohnehin schon war, wie sie zu sagen pflegte.

Als sie Kinder waren, hatte er ihr manchmal Bubenkleider mitgebracht, damit sie ungestört in die Stallungen ihrer Familie gehen konnten. Dort hatten sie dann versucht, die jungen Pferde zu reiten, welche die Knechte noch nicht gebrochen hatten. Sie waren dabei immer nach dem gleichen Muster vorgegangen, hatten die Tiere mit kleinen Portionen von geschnittenem Gras beruhigt, waren inzwischen auf den Rücken eines Pferdes geklettert und hatten dann mitgezählt, wie lange sie sich dort oben halten konnten. Dabei war ihnen jede Zahl, um die sie die Reihe verlängern hatten können, als unglaublicher Erfolg erschienen und obwohl es zweifellos nicht die beste Methode war, ein rohes Pferd einzureiten, hatten sich die Jungtier mit der Zeit derart an das Verfahren gewöhnt, dass die beiden wohl so manchem Knecht die eine oder andere gebrochene Rippe erspart hatten.

Langsam schritt die Prozession bergauf, langsam und doch zu schnell für Jonathan. Denn schon hatten sie den ersten Tunnel passiert. Während die anderen Mädchen bald ein wenig nach links, bald ein wenig nach rechts auswichen, hielt Tabitha die ganze Zeit über ihre Linie bei. Ihre Haltung war aufrecht, aber nicht stolz, ihre Züge ernst, aber nicht hart. „Was für ein wundervoller Priester wäre aus dir geworden", hatte Jonathan ihren Vater einmal sagen hören. „Aber die Boshaftigkeit des Engels hat es uns verwehrt". Überhaupt liebte Seraja ben Jachim seine einzige Tochter über alles. Mehr als einmal hatte er die beiden bei ihren Reitversuchen ertappt. Und während Jonathan sich unwillkürlich ausgemalt hatte, wie unerbittlich er selbst gezüchtigt worden wäre, wenn sein eigener Vater ihn bei einem nur annähernd so schlimmen Vergehen erwischt hätte, hatte Tabithas Vater nur gelächelt. Mehr noch, er hatte so getan, als ob er seine Tochter gar nicht erkannt hätte. Einmal hatte er ihr die Wange gestreichelt und mit ebenso liebender wie trauriger Stimme gesagt: „Mein armes, armes Kind." Seraja ist ein guter Vater, hatte Jonathan damals gedacht und sich dabei so sehr geschämt, dass er am Abend kleinlaut ins väterliche Gemach eingetreten war und Schlomo ohne Angabe näherer Gründe gebeten hatte, ihn zu bestrafen.

Wie konnte ich nur so dumm sein, sagte sich Jonathan und vertrieb sofort den Gedanken. Genug jetzt mit all den Erinnerungen, ermahnte er sich. Wir sind nun erwachsen, beinahe Erwachsen zumindest. Beide Familien favorisierten eine Eheschließung zwischen den jungen Leuten, das war kaum zu übersehen. Es war alles perfekt oder hätte es zumindest sein können.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt