"Liebe Elisabeth,
ich habe die Stadt schon wieder verlassen. Jetzt bin ich von London nach Newcastle upon Tyne gekommen, eine Stadt irgendwo im Norden Englands. Edevans Geburtsort und, um ehrlich zu sein, kein hübsches kleines Städtchen. Aber ganz akzeptabel, im Vergleich zu London. Ich wohne jetzt in einem kleinen, grauen Häuschen am Stadtrand und kenne nur die Menschen in unserer Straße. Alles wirkt klein, grau und trist, sodass die schlechte Laune beinahe von selbst kommt.
Mister und Misses Jones, die direkten Nachbarn, sind noch erträglich, ein einfacher Arbeiter in einer Fabrik und seine Frau mit sieben Kindern, aber Misses Dysentery macht ihrem Namen alle Ehre. Sie redet ohne Ende und leider nicht ganz auf die höfliche Art und Weise. Sie ist die Art von Frau, von welcher man in Büchern liest, welche über den Zaun alle bösen Geschichten, welche wahr oder auch unwahr sind, weitergibt. Sie hat hunderte Romane bei sich zu Hause und etwa zweitausend in der örtlichen Bibliothek, in welcher sie arbeitet und wie mir scheint, jeden Einzelnen auswendig gelernt, was mit ihren erst vierzig Jahren eine wahre Kunst ist. Sie neigt dazu, jeden mit Romanfiguren zu vergleichen, für mich hat sie allerdings noch keinen Vergleich. Sie kennt jeden aus der Stadt mit allen Gewohnheiten, Geheimnissen, Besitztümern und Freunden auswendig, was ebenfalls eine Kunst für sich ist, bei etwa zweihunderttausend Einwohnern.
Außer dem Altersunterschied und dass sie mir recht misstrauisch gegenübersteht, ich für meinen Teil auch nicht weniger, ähnelt sie sehr Dorothee, und ist eine unaushaltbare Klette, welche aus jeder Kleinigkeit Schlüsse zieht, aber auch stundenlang von sich und dem Dorf erzählen kann. Aber an die kleinen Teatimes mit stundenlangem Gerede habe ich mich schon bei Dorothee gewöhnt, auch wenn sie alles auf einen größeren Ausmaß gebracht hat.
Außer den Jones und Misses Dysentery kenne ich nur noch die Familie Smith. Eine wirklich große Familie, über die halbe Stadt verteilt. Eine Familie zum Verbrechen hin geboren, wie Misses Dysentery meinte. Der Vater ein Fälscher, die Mutter eine Diebin, die Kinder für jeden kriminellen Kleinkram zu begeistern, der Großvater ein Mörder, mit zweiundachtzig aus dem Gefängnis entlassen und der Onkel der Familie ein gnadenloser Randalierer. Nicht wirklich ein Vorbild für die sonst so tristen und anständigen Familien, welche hier dennoch häufiger vorkommen.
Da ist die Familie Jones ruhiger. Der Vater ein Arbeiter, die Mutter Haushälterin, der Älteste Professor an der hiesigen Universität, der Zweitälteste Bauarbeiter, der Mittlere studiert noch, und das älteste Mädchen arbeitet als Assistentin von Misses Dysentery. Alle anderen sind noch in der Schule oder zuhause, weil sie noch nicht alt genug sind. Laut Misses Dysentery sind sie die Ruhigsten im ganzen Dorf, während nicht wenige Familien in die Richtung der Smiths tendieren.
Vermutlich nerve ich dich nur mit meinen Anekdoten aus Newcastle, der seltsamen Stadt, von der ich vielleicht, aber nur vielleicht, etwas übertrieben rede. Es gibt auch hübsche Straßen hier, die meisten jedoch im Stadtzentrum, an den großen Flüssen. Edevan jedoch empfand diese Straße, weit entfernt von jedem Trubel, als perfekt für einen Wahnsinnigen wie mich. Ich kann es ihm, trotz der schrecklichen Aussicht, nicht verübeln.
Ich muss aufhören, Elisabeth, ich habe einen Vorstellungstermin an der Universität. Vielleicht werde ich wieder Professor, besser als Berater oder leitender Chemiker ist es allemal.
Bis Morgen.
Auf ewig
Dein
James."
James legte den Brief nieder und stand von seinem Stuhl auf und ging zum Fenster. Eine Stadt wie jede andere, sagte er sich. So langweilig, wie es nur ging. Doch er war sich sicher, dass hier nichts geschehen konnte. Edevan hatte den perfekten Ort auserkoren, um ein ruhiges Leben zu führen.
James ging wieder vom Fenster weg. Dieser Ort war voller Grauen und doch voller Ruhe, abscheulich, doch endlos. Beinahe unmerkbar lächelte er. "Der perfekte Ort, um einen Verrückten wie mich unterzubringen", dachte er sich bei dem Gedanken an Edevan. Er klappte die Zeitung auf und sein Lächeln verschwand. 'Mysteriöser Fall Fernsby', war die Überschrift des Artikels. 'Am 1.8 dieses Jahres wurde Lord Fernsby in seinem Anwesen nahe Waringtown umgebracht. Er wurde durch das Fenster gestoßen und brach sich das Genick. (...) Der aktuelle Verdacht der Polizei liegt auf Garry Gilbert, dem Bediensteten von Lord Fernsby, welcher laut eigenen Aussagen zum Todeszeitpunkt Fernsbys auf dessen Grundstück. Er selbst sagte zwar aus, dass sich ein Bewohner des verschütteten Dorfes, James Relish, nahe Waringtown zur selben Zeit dort aufgehalten habe und Lord Fernsby auch umgebracht habe, doch die Polizei hat rege Zweifel an der Aussage. Gilbert wurde in Gewahrsam genommen und es wird in zwei Wochen über seine Schuld entschieden."
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Remember and forget
Misterio / SuspensoAlles hat einen Anfang, sogar das Ende--- Als Elisabeth, James' Frau, durch einen Vulkanausbruch stirbt, ist er am Boden zerstört. Doch schon kurz danach erfährt er, dass Lord Fernsby von der drohenden Gefahr Bescheid wusste. Es kommt zum Streit und...