dreizehnter Brief I Der perfekte Ort

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"Liebe Elisabeth,

ich weiß, ich versprach dir am nächsten Tag zu schreiben, aber dazu kam ich nicht. Ich arbeite jetzt an der Universität von Newcastle und in dieser Stadt passiert so selten etwas, dass es sich nicht lohnt, häufig zu schreiben. Ich habe außerdem sehr viel zu tun, Arbeit und Vorbereitung, auch wenn ich zum Glück keine nervigen Studenten habe. Nur kleine Ereignisse sind geschehen; der Winter ist sehr ruhig vorüber gegangen. Es ist fast wie damals, nur ohne dich. Ich vermisse dich so sehr. 

Nun ist es Frühling und die Sonne scheint hell am Himmel. Wie viele Monate sind doch nun vergangen? Ich weiß nicht genau, vier oder fünf vermutlich. Wie konnte ich dir nur so lange nicht schreiben? Aber bald werde ich es tun, bevor ich es wieder vergesse. 

Newcastle upon Tyne ist ein Ort, an welchem man vollends zur Ruhe kommen kann, und das tue ich hier. Doch wie sehr wünsche ich, du würdest auch hier sein, es würde dir sehr gefallen. Nun gut, lasse ich die Schwärmerei von diesem Ort. 

Morgens gehe ich früh zur Arbeit, komme spät nach Hause, und unterhalte mich jeden Samstag mit Misses Dysentery, während ich jeden Sonntag Arbeiten kontrolliere. Ich unterrichte in den Fächern Englisch, Literatur, Mathematik, Philosophie, Physik und Latein, auch wenn ich die meisten Stunden in Lateinkursen verbringe, nur seltene in Literatur- und Englischkursen und in den restlichen Kursen nur als Ersatz fungiere, weil es deutlich bessere Professoren als mich in diesen Themen gibt. Ich komme damit ganz gut zurecht, immerhin habe ich schon so viele Stunden und auch wenn du Latein nie leiden konntest, so ist und bleibt es für mich die zweitinteressanteste Sprache der Welt. Wenn Walisisch nicht wäre, so wäre es unumstritten die beste, doch seine Heimatsprache vergisst man nicht so schnell. Leider spricht es hier niemand, das wäre um einiges erfreulicher. 

Mein Raumkollege, welcher auch gleichzeitig dieselben Studenten in anderen Kursen hat, ist Fred Johns. Er ist ein wirklich höflicher, aber auch in sich gekehrter Kollege, welcher mich nie ablenkt. Er redet sehr selten, wenn, dann aber sicher niemals umsonst. Er ist Professor für Mathematik, Physik, Chemie und Geologie und ihm liegt es wirklich. Er ist das komplette Gegenteil meiner ehemaligen Kollegen, welche immer nur Direktor Haddock hinterhergerannt sind und immer Angst vor einer Rüge hatten. Wenn Johns etwas sagen will, sagt er es auch, ohne Wut und ohne Angst. Man kann sich beim besten Willen mit ihm nicht streiten. 

Meine Studenten sind nicht sonderlich gescheit und die meisten versuchen nur mit möglichst wenig Lernen mit halbwegs guten Noten die Universität zu bestehen und nur etwa zehn von ihnen haben wirklich ein Talent für Sprachen. Für viele Berufe empfiehlt sich Latein zwar, aber für viele ist es nur eine lästige Pflicht, diesen Kurs zu belegen. Für mich bedeutet das, dass am Ende jeder Unterrichtseinheit mindestens zwei Studenten längst eingeschlafen sind. Wenn man aber Misses Dysentery glauben soll, so sind sie keineswegs so langweilig, wie es scheint. interessante Geschichten gibt es über jeden von ihnen. 

Der alte Mister Smith ist mittlerweile gestorben, da jemand sich wohl nicht so einfach ausrauben lassen wollte. Tante Smith, welche lange im Gefängnis saß wegen Betrugs, ist nun auf freien Fuß und versucht den Kindern für diese unzulässige Medikamente und Getränke anzudrehen. Misses Smith wurde entlassen und versucht sich als Putzfrau bei anderen Leuten, wobei sie allerdings nur selten eine Stelle bekommt. Familie Johns hat sich einen Hund gekauft und der Jüngste wurde schon gebissen und ist momentan im Krankenhaus, was ihm recht geschieht, Hunde sind schließlich keine Haustiere. Ansonsten ist recht wenig Interessantes geschehen in der Nachbarschaft. 

Mehr gibt es nicht zu erzählen, doch warte kurz, ich hätte etwas fast vergessen! Ich wurde für übermorgen zu den Edevans eingeladen, welche gestern schon hierher gezogen sind. Über Misses Edevan gibt es hier viel zu erzählen, auch wenn sie erst mit siebzehn hierher gezogen ist und mit neunzehn wieder verschwand. Den Rest finde ich schon bald heraus. Übermorgen schreibe ich sie dir dann, jetzt habe ich noch etwas zu tun.

Vermutlich werde ich dir von der Arbeit schreiben, dort sitze ich häufig und warte, bis der erste Student fertig ist. Mit den Briefen könnte ich diese Zeit ein wenig verkürzen und du freust dich bestimmt darüber, meine liebste Elisabeth. Ich denke wirklich, es würde dir hier gefallen, denn auch mein anfängliches Misstrauen gegenüber dieser grauen Stadt ist verschwunden, vielleicht ist sie noch nicht einmal so grau, wie ich dachte.

Auf Wiedersehen,

Dein

James"

James faltete den Brief zusammen und legte ihn in seine hölzerne Schatulle mit Goldverzierungen. Schon als er Elisabeth kennengelernt hatte, hatte er jeden Brief hineingetan, welchen Elisabeth bekommen sollte. Es war ein Erbstück aus dem Hause Llewelyn, woher seine Frau gestammt hatte. Viel lag ihm daran, die Briefe genau dort aufzubewahren, denn so war es beizeiten, als würde sie die Briefe tatsächlich eines Tages erhalten. 

Noch wusste James nicht, was geschehen sollte, woran er aber diesmal nicht seinen Teil beitragen sollte. Er gewöhnte sich an diese Stadt, von außen in Grau gehüllt und im Herzen doch bunt wie eine Blumenwiese. Doch bleiben war ihm nie vergönnt, und auch jemand anderem nicht, welchem er mittlerweile sehr viel bedeutete.

 Doch bleiben war ihm nie vergönnt, und auch jemand anderem nicht, welchem er mittlerweile sehr viel bedeutete

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