Peitholaos

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„Adonai lo gaba libbi, welo ramu chenai, welo hillachti bigdolot", leise und melodisch erklang die Stimme der Frau. Nach all den Jahren ihrer Ehe war es immer noch ihr Gesang, der Peitholaos das Kriegsgeschrei vergessen ließ, die blutüberströmten Leiber, die abgetrennten Gliedmaßen. Während sie sang, ruhte ihre Hand vertrauensvoll in der seinen, ihre Augen sanft auf dem Säugling, der weich gebettet zwischen ihnen lag. Die Wangen des kleinen Jungen waren rundlich, die Haut golden, das Näschen hob sich klar von den hellen Kissen und Decken ab. Im Schlaf waren die Gesichtszüge des Knaben weich und entspannt, die Händchen lagen links und rechts neben dem Kopf, locker zu Fäusten geschlossen. 

Vier Wochen war Selah nun alt und sein Vater, Peitholaos, hatten ihn in dieser Zeit kaum gesehen. Gemeinsam mit seinen Soldaten hatte er für einen reibungslosen Ablauf der Sukkotfeierlichkeiten sorgen müssen. Wie bei jedem religiösen Fest war Jerusalem mit Pilgern aus Samarien, Galiläa, Idumäa und Peräa gefüllt gewesen, ja selbst aus dem Parther Reich, Ägypten und Griechenland waren zahlreiche Juden auf den Zionsberg geströmt. Bis zum Sukkot-Abend selbst hatte sich die Bevölkerung der Stadt in etwa verdoppelt, was nicht nur ein massives Versorgungsproblem mit sich brachte, sondern auch eine Gefahr für die öffentliche Ordnung bedeutete. Trotz der angespannten Situation jedenfalls war es Peitholaos gelungen, größere Ausschreitungen zu verhindern. Seine guten Kontakte zu den jüdischen Rebellengruppierungen hatten sich dabei einmal mehr als hilfreich erwiesen.

Zärtlich streichelte Peitholaos das dünne Haar seines Sohnes. Nicht ohne Stolz dachte er an die letzten Tage zurück und überlegte dabei, wie viele Anschläge es gewesen sein mochten, die er durch das rechtzeitige Beschaffen von Informationen und nicht durch rohe Gewalt hatte vereiteln können. Nun, nach getaner Arbeit, war für ihn eine Zeit der Ruhe gekommen. Während der Festansprachen nach dem Hauptopfer war er vom Hohenpriester öffentlich gelobt worden, alles war zu Hyrkans voller Zufriedenheit verlaufen und nach dem offiziellen Teil hatte sich Peitholaos sogar noch die Gelegenheit geboten, das Fest gemeinsam mit seiner Frau, der Verwandtschaft und den vier Kindern in der Laubhütte der Familie ausklingen zu lassen. Am Morgen nach dem Fest war der größte Teil seiner Truppe zusammen mit sechzig oder siebzig Gefangenen in die Festung Churvat Mezad zurückgekehrt, während er selbst ein paar Tage bei seiner Familie, vor allem aber bei seinem letztgeborenen Kind, dem lang herbei gesehnten männlichen Erben, verbringen wollte.

Vorsichtig, als könnte jede noch so geringfügige Bewegung den Kleinen wecken, rückte Peitholaos näher an Selah heran. Ein süßlicher Geruch von Muttermilch umgab den Säugling. 

"Ist er nicht wunderschön?" hörte er seine Frau flüstern und lächelte ihr liebevoll zu. Obwohl von draußen bereits das Licht und die Geräusche des Tages zu ihnen hereindrangen, blieben die Eheleute still neben ihrem schlafenden Kindchen liegen. Zu kostbar waren ihnen die kurzen Momente, in denen sie sich gemeinsam an ihrem Glück erfreuen konnten.

„Das ist er", antwortet Peitholaos andächtig. Doch während er den Jungen beobachtete, musste er unwillkürlich an die Sukkot-Nacht zurück denken. Man hatte ihm berichtet, dass es neben den verschiedenen kleinen Protesten in Jerusalem auch einen Überfall auf einen römischen Vorposten gegeben hatte und zwar bei Para. Dass die einzelnen Aufstände zueinander in Verbindung standen, war allerdings unwahrscheinlich. Denn in den letzten Jahren waren immer wieder neue religiöse Führer aufgetreten, die Jünger um sich scharten und früher oder später zum bewaffneten Widerstand gegen die Römer aufriefen. Ob sie sich selbst als Messias ansahen oder nur die Wegbereiter für den Messias sein wollten, war dabei nicht von Bedeutung. Trotzdem wäre es interessant gewesen, mit den Rebellen zu sprechen, sagte sich Peitholaos. Doch dafür war es nun zu spät. Einmal mehr hatten die Römer alle Gefangenen exekutiert. Zumindest war es das, was man ihm berichtet hatte. Peitholaos schüttelte verärgert den Kopf.

„Hast du Sorgen?" erkundigte sich seine Frau mit sanfter Stimme.

„Keine sehr großen", antwortete er leise. Sobald er wieder mit seinen Männern vereint wäre, würde er ein paar Verhöre durchführen müssen. Peitholaos hasste es, Gewalt anzuwenden, doch er wusste auch, dass die Rebellen auf gutes Zureden allein nicht allzu viel preisgeben würden.

In dem Moment klopfte es an der Tür. Noch bevor Peitholaos reagieren konnte, trat ein Diener ein. Seine Nachricht war unmissverständlich: In Churvat Mezad gab es Probleme, die Malichos allein nicht bewältigen konnte und deshalb nach seinem Vorgesetzten schicken ließ. Peitholaos seufzte tief, küsste die Hand seiner Frau und stand dann vorsichtig auf, denn er war noch immer bemüht, seinen kleinen Sohn nicht zu wecken. Eilig wusch er sich mit dem kalten Wasser, das in einem Krug bereit stand, den Schlaf aus dem Gesicht, legte seine Lederrüstung an und warf Mutter und Kind zum Abschied noch einen liebevollen Blick zu. Draußen ließ er sofort die Pferde zäumen und brach unverzüglich mit einer kleinen Truppe von sechs Reitern auf. Die Pferde waren nach dem Sukkot-Fest nicht mehr geritten worden und so entlud sich die Spannung, die sich in ihnen während der letzten Tage aufgestaut hatte, sobald sie die Stadttore passiert hatten, in einem ungestümen scharfen Galopp. Geschmeidig ging Peitholaos mit der Bewegung seines dunkelbraunen Hengstes mit und doch drosselte er ein wenig die Geschwindigkeit, denn er hatte vor, den Weg nach Churvat Mezad ohne größere Pausen zurückzulegen.

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