Kreuzigung

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Nachdem Pompeius Jerusalem erobert hatte, waren auf seinen Befehl hin die wichtigsten Festungen in Judäa zerstören worden. Hyrkania, Threx, Taurus, Alexandrium sowie die Burganlagen bei Schytopolis, Lysias und Philadelphia, sie alle waren dem Boden gleich gemacht worden. Nur Churvat Mezad, einen knappen Halbtagesmarsch nord-westlich von Jerusalem gelegen, hatten die Römer nicht geschliffen. Vielmehr hatte Lucius Aemilius Scaurus, der als vorläufiger Stadthalter in Syrien geblieben war, irgendwann entschieden, die der römischen Autorität treu ergebenen jüdischen Truppen dort zu stationieren. Außerdem war die Festung Churvat Mezad unter die direkte Gewalt von Hyrkan, den unmittelbaren Verbündeten der Römer, gestellt worden. Da sich Peitholaos im Kampf gegen Aristobulus durch Tapferkeit und Klugheit einen Namen gemacht hatte, war ihm als Upostrategos die Befehlsgewalt über Hyrkans Truppen übertragen worden. Er und Malichos, ein zweiter, Peitholaos unterstellter jüdischer General, trugen nun Sorge für Ordnung und Sicherheit in Jerusalem und in den umliegenden Gebieten.

Beim Ritt den Festungsberg hinauf hörte Peitholaos bereits gellende Schreie und spätestens als er mit seinem Pferd die letzte Kehre vor dem Haupteingang hinter sich gelassen hatte, war ihm klar, woher das verzweifelte Brüllen und Stöhnen kam. Eine Gruppe von römischen Soldaten hatte offenbar eine Reihe senkrechter Pfähle in den Boden gerammt. Die erste Reihe der Kreuze war durch das Einsetzen des Querbalkens bereits fertig gestellt worden. Die nackten Männer, die an ihnen hingen, krümmten sich unter der Tortur. Immer wieder versuchten sie, sich mit ihren Beinen abzustützen, um besser atmen zu können. Die Schmerzen, die ihnen die durchbohrten Gelenke bereiteten, standen denen, die von ihrem überdehnten Brustkorb ausgingen, an Intensität kaum nach. Eine weitere Gruppe von Soldaten war offenbar damit beschäftigt, am Hang vor dem Haupttor eine zweite Reihe Pfähle anzubringen.

Sie wollen die Exekutionen zügig vorantreiben, schoss es Peitholaos durch den Kopf, während er in der Menge fieberhaft nach seinem Unteroffizier suchte. Doch die erste bekannte Gestalt, die er entdeckte, war nicht Malichos, sondern ein kleingewachsener, dicklicher Römer mit bereits ergrautem Haar, der sich mit seiner bronzenen Rüstung und seinem roten Umhang breitbeinig in der Mitte des Festungshofes platziert hatte. 

„Marcus Pupius Piso Frugi Calpurnianus", schrie Peitholaos und betonte dabei jedes einzelne Wort. Während er sprach, war er von seinem noch trabenden Pferd abgesprungen und hatte nicht ohne Zufriedenheit festgestellt, dass gleich mehrere seiner Männer herbeigeeilt waren, um ihm die Zügel aus der Hand zu nehmen und den Hengst zu versorgen. Es ist und bleibt meine Festung, sagte sich Peitholaos, und ich werde hier und jetzt für Ordnung sorgen.

„Wenn ich mich nicht irre, hast du innerhalb dieser Mauern keine Befehlsgewalt", herrschte er den Römer an, der bereits unter der ersten Anrede sichtlich zusammengezuckt war.

„Lieber Peitholaos", haspelte der andere verlegen. „Wie schön dich zu sehen. Ich hatte dich schon gestern Abend erwartet."

„Du weiß genau, dass ich in Jerusalem war", fuhr ihn der jüdische Offizier schroff an und setzte noch schärfer hinzu: „Was hast du hier zu suchen?"

„Aber, aber, warum so aufbrausend, mein teurer Freund. Komm mit mir, du hast bestimmt noch nicht gegessen. Und wie du aussiehst!" Calpurnianus fasste Peitholaos am rechten Oberarm, und versuchte ihn vor sich her zu schieben, doch der befreite sich mit einer einzigen kräftigen Bewegung, die so entschlossen war, dass der Römer überrascht zurückwich. Verärgert deutete Peitholaos auf die Soldaten vor dem Tor: „Du wirst mir bestimmt erklären können, was hier vor sich geht!"

Während er noch sprach, bemerkte Peitholaos, dass sich ihnen vom Offiziersgebäude her, welches sich im südlichen Teil der Anlage befand, eine kleine Gruppe an Menschen näherte. Allen voran schritt Malichos, unmittelbar hinter ihm zwei junge Männer, die ihrer Kleidung nach zu urteilen der Oberschicht angehören mussten. Peitholaos wusste nicht, wer sie waren, doch kamen sie ihm in gewisser Weise bekannt vor. Der eine war dem anderen wie aus dem Gesicht geschnitten. Vermutlich Brüder, dachte er. Den beiden folgten vier Soldaten, vermutlich Mitglieder einer römischenAuxiliartruppe, offensichtlich aber keine Offiziere. Es wird die Schutzgarde der adeligen Bürschchen sein, sagte sich Peitholaos und zuckte verächtlich mit dem Mundwinkel.

„Calpurnianus", insistierte Peitholaos noch einmal. „Ich verlange eine Erklärung. Was tust du hier? Und was zum Teufel treiben die römischen Soldaten da draußen?" Gemeinsam mit seinen Gästen war Malichos nun bis auf ein paar Schritte an sie herangekommen. Er schien über Peitholaos Eintreffen erleichtert zu sein. 

„Ganz ruhig, mein Freund", schmeichelte Calpurnianus und konnte die eigene Unsicherheit dabei nur schlecht überspielen. „Die Soldaten bauen Kreuze", fügte er ungeschickt hinzu und musste sich von Peitholaos dafür auch prompt maßregeln lassen.

„Das sehe ich selbst", fuhr ihn Peitholaos an und warf ihm dabei einen vernichtenden Blick zu. „Aber wer hat den Befehl erteilt?" Brüllen und Wehklagen der Gekreuzigten waren noch deutlicher zu hören als zuvor. Ein klares Zeichen dafür, dass die Soldaten eifrig bei der Arbeit sind, dachte Peitholaos zynisch. Er wusste genau, dass die Opfer nur während der kurzen Zeit, wo man sie am Querbalken des Kreuzes festnagelte, genug Kraft hatten, lauthals zu schreien. In ihrem Todeskampf, in dem sie sich unwillkürlich gegen den Erstickungstod auflehnten, versuchten sie sich immer wieder aufzurichten, bis sie der Tod schließlich, wenn nicht durch Ersticken, so durch Erschöpfung heimsuchen würde.

„Malichos!" rief Peitholaos, denn der Offizier war nun nahe genug, um einen Befehl zu empfangen. „Sieh zu, dass die Männer die Pfähle abtragen. Unsere römischen Freunde müssen uns leider schon verlassen."

Malichos zögerte einen Augenblick. Er kannte seinen Vorgesetzten sehr gut und wusste, dass er in Wahrheit ein geduldiger und einfühlsamer Mensch war. Seine Soldaten waren ihm treu ergeben, denn er hatte sie in schwierigen Schlachten umsichtig geführt und dabei stets in vorderster Reihe mit ihnen gekämpft. Doch Malichos wusste auch, dass Peitholaos keine Infragestellung seiner Autorität duldete, schon gar nicht, dass jemand sich anmaßte, in seiner Festung Befehle zu erteilen.

Wie er vor ihm stand, verschwitzt, Stirn und Wangen vom Staub verklebt, die Augen glühend vor Zorn, erinnerte ihn Peitholaos an einen Schofet, oder genauer gesagt an das Bild, das er, Malichos, von den Schofetim hatte, von jenen Richtern aus den alten Zeiten, als Israel noch keinen König hatte: gerecht, loyal, Gott ergeben, aber auch unbeugsam und unbarmherzig. Einer, der weder Lügen noch List ertrug. Und genau so ein Mann war Peitholaos. Er hasste Rom, hatte sich aber nach der Eroberung Judäas mit dessen Vorherrschaft abgefunden und schließlich sogar eingewilligt, die Obergewalt über das jüdische Militär inne zu haben. Denn er war überzeugt, dass er in dieser privilegierten Position mehr Möglichkeiten hatte, seinem Volk zu dienen. Noch mehr als die Römer hasste Peitholaos aber diejenigen unter den Juden, die für ihren eigenen Vorteil mit der Besatzungsmacht paktierten.

„Sorge dafür, dass die Gekreuzigten auf der Stelle getötet werden!" befahl Peitholaos und riss Malichos jäh aus seinen Gedanken. „Schnell und schmerzlos." Peitholaos wusste, dass er die Gefangenen, die man bereits ans Holz genagelt hatte, nicht mehr retten konnte. Die Kreuzigung zählte nicht zu jenen Folterarten, die ein Mann überleben konnte. Die Wunden würden sich entzünden und die Gekreuzigten langsam und qualvoll dahin siechen. Das einzige, was er noch für sie tun konnte, war ihnen einen raschen Tod zu bereiten.

Malichos reagiert nicht sofort und Calpurnianus lachte nervös, als der jüngere der beiden Adeligen einen Schritt auf Peitholaos zu machte. Er hatte intelligente Augen, die Gesichtszüge waren scharf, das lockige Haar nach hinten gekämmt und der Bart nach der neuesten griechischen Mode geschnitten und frisiert. Er trug eine kurze Tunika, einen braunen Mantel und an seinem breiten ledernen Gürtel hing ein mächtiger Krummdolch, dessen Halterung mit grünen Steinen und goldenen Intarsien verziert war. Mit Widerwillen stellte Peitholaos fest, dass der Mann ihm gegenüber parfümiert war. Was für ein elender Zärtling, sagte er sich, kaum besser als ein Weib. Doch im gleichen Moment bemerkte er seine muskulösen Arme und eine langgezogene Narbe auf dem linken Oberschenkel, die nur von einer Schnittwaffe stammen konnte. Vielleicht ist er doch nicht so ein Schwächling, dachte Peitholaos, denn offensichtlich hatte der andere trotz seiner Jugend bereits Kampferfahrung.

„Die Pfähle bleiben, wo sie sind", kommandierte der Adelige scharf. Peitholaos starrte den Burschen ungläubig an. Unwillkürlich ballte er seine Fäuste. Nur mühsam gelang es ihm, seinen Zorn zu zügeln.

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