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Lina

Mühsam den Blick auf die Straße gerichtet und mit um das Lenkrad ihres Wagens verkrampften Händen atmete Lina tief durch. Andere Autos, Ampeln und Hausfassaden rasten an den Fenstern vorbei. Schwere Regentropfen prasselten auf die Scheibe und erzeugten zusammen mit dem Quietschen der Scheibenwischer ein lautstarkes Konzert. In den verschmierten Wassertropfen glänzten die Lichter, mit denen die Autoscheinwerfer und Straßenlaternen die Nacht erhellten. Eine Strähne ihrer dichten blonden Locken fiel Lina immer wieder in ihr Gesicht und sie zerrte sie zornig hinter ihr Ohr. Ihr Puls raste. Schon lange war sie nicht mehr so wütend gewesen. Heute wäre es soweit gewesen. Heute wäre endlich der Tag gewesen, an dem sie in den Urlaub gefahren wären. Die erste Reise seit langer Zeit, auf die Lina sich gefreut hatte. Elias, mit dem sie jetzt schon fast acht Jahre verheiratet war, hatte schier unendliche Geduld bewiesen und sie nie gedrängt. Er wusste von ihrer Vergangenheit und den tiefen Wunden, die die Geschehnisse hinterlassen hatten.

Vor nahezu siebzehn Jahren war sie das letzte Mal in den Urlaub geflogen. Ihr Lebensgefährte zu dieser Zeit, Ben, war mit Lina in die USA gereist. Der anerkannte Experte für den amerikanischen Bürgerkrieg sollte dort einen größeren Vortrag halten, was er seiner Freundin aber verschwiegen hatte. Das wäre gar nicht so dramatisch gewesen, wäre er dort nicht entführt worden. Die Entführer vermuteten bei ihm Wissen über einen enormen Goldschatz, der seit diesem Krieg als verschollen galt. Das erwies sich zwar als Trugschluss, doch im Verlaufe der Ereignisse und bei dem Versuch, seine Freundin zu beschützen, erlitt Ben einen Kopfschuss und lag seit diesem Tag im Koma. Lina, die sich voller Wut darauf konzentrierte, die Drahtzieher dieser Entführung zu finden, war bis in das Weiße Haus vorgedrungen und schaffte es tatsächlich, den Kopf hinter der Aktion zu enttarnen. Den amerikanischen Verteidigungsminister. Das alles hatte sie nur durch die Hilfe eines jungen Polizisten erreicht, zu dem sie immer noch engen Kontakt hielt. Greg, der inzwischen Detective, also Kriminalbeamter, bei der New Yorker Polizei war, hatte im Verlaufe diesen Abenteuers mit einer flapsigen Bemerkung Lina gefragt, ob sie schwanger sein könnte, was sich kurz darauf als richtig herausstellte. Er wurde der Patenonkel von Julie, die mit ihren sechzehn Jahren jetzt auf der Rückbank des Wagens saß und wütend vor sich hinmotzte:

    „Du bist so bescheuert. Es war doch gar nichts."

Es kostete Lina einige Mühe, nicht loszuschreien:

    „Es war nichts? Du bist bei jemandem eingebrochen."

    „Das war eine Party. So läuft das nun einmal heutzutage."

    „Nein, so läuft das nicht. Ein Party ist an Orten, an denen man eine Party feiern darf. Das, was ihr gemacht habt, ist ein Einbruch, gepaart mit Vandalismus."

Julie zuckte mit den Schultern:

    „Ja, und?"

Kopfschüttelnd betätigte Lina den Blinker und bog in die nächste Straße ab. Es war nicht mehr weit bis zu ihrem Haus, dass am Stadtrand lag. Eine durchaus ansehnliche Stadtvilla, mit einem großen Grundstück, dessen großzügiger Garten von einer Firma gepflegt wurde. Elias verdiente nicht schlecht, aber sein Gehalt war verschwindend gering im Vergleich zu seiner Frau, die als Kunsthistorikerin ein Museum leitete und eine weltweit gefragte Expertin für Malerei war. Womöglich verführte dieses Geld sie dazu, Julie mehr zu verwöhnen, als gut für sie war. Die Teenagerin akzeptierte kaum Regeln und verließ sich darauf, dass Strafen oder beschädigte Dinge von ihrer Mutter bezahlt wurden. Und Lina brachte es bisher nicht über ihr Herz, ihre Tochter in ein offenes Messer laufen zu lassen. Obwohl sie es sich schon mehrfach verdient gehabt hätte:

    „Ich denke, dieses Mal werde ich dir nicht mehr helfen."

    „Was? Spinnst du?"

    „Nein. Du musst endlich lernen, dass dein Handeln Konsequenzen hat. Das ist bereits das dritte Mal in diesem Monat, dass ich dich von einer Polizeiwache abholen muss. Du kannst dir sicher denken, was dein Vater dazu sagen wird."

1429 - Was, wenn Gott einen Fehler macht?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt