Der schönste Sonnenuntergang

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ER stand auf dem Deck. Seine Finger umklammerten krampfhaft das kühle Eisen der Reling. Jenes Metall brannte sich schmerzhaft in seine Haut und ließ seine Finger steif und taub werden, doch das schien er gar nicht recht wahrzunehmen. Der Blick des Mannes war starr auf das Meer unter ihm gerichtet. Wie gebannt sah er den Wellen zu, die gegen den Bug des Schiffes krachten. Es steckte so viel Macht hinter der flüssigen Naturgewalt, dass das Schiff leicht hin und her schwankte und kleine Spritzer des dunkelblauen Salzwassers in seinem Gesicht landeten. Aber er rührte sich nicht. Er schmeckte den fahlen, salzigen Geschmack des Meeres auf seiner Zunge. Aber er rührte sich nicht. Das dunkelblonde Haar wurde ihm von dem Wind erbarmungslos in die Augen gepeitscht. Aber er rührte sich nicht. Seine Lunge brannte, aufgrund des Sauerstoffmangels, weil er nicht atmen konnte. Aber er rührte sich nicht. Die wilden Wogen zerschellten an dem rauen Material des Schiffes und jeder Schlag gegen den Frachter, hinterließ ein dumpfes, aber dennoch spürbares Pochen in der gähnenden Leere seines Brustkorbes. Aber er rührte sich nicht.

In den Untiefen des Meeres, welche diesem die tiefblaue Farbe schenkten, sah Marseille in dem farbenfrohen Aufgehen der Sonne, was sich wundervoll auf dem Wasser widerspiegelte, ein Gesicht. Ein blasses, schmales Gesicht, das sich in den schäumenden Wogen von ihm erblicken ließ. Es war das Gesicht einer jungen Frau. Lange braune Haare umschmeichelten ihr Gesicht und dunkle Seelenfenster funkelten ihm entgegen, während eine kleine, kaum wahrnehmbare Falte auf ihrer zarten Stirn prangte. Die dünnen, spröden Lippen hatte sie zu einem verhaltenen Lächeln verzogen.

Der Anblick dieser jungen Frau riss das Loch in seiner Brust nur noch tiefer. Und das quälende Stechen wich zu einem fast unerträglichen Schmerz.
»Das bin ich doch immer.«, das waren die letzten Worte gewesen, die ihre zarte Stimme in seiner Anwesenheit hervorgebracht hatte. Die Silben hallten in seinem Kopf wider wie auf einer hängengebliebenen Schallplatte, derweilen ihr fröhlicher Gesichtsausdruck einem erschrockenen wich. Ein Knall hallte durch die Luft und fraß mit seinem Echo das beruhigende Geräusch der Wellen auf, um es zu einem tiefen, bedrohlichen Knurren werden zu lassen.

Tränen rannten seine Wangen herunter, die der Wind sanft wegzuwischen wusste. Er schloss die Lider und vertraute für eine Sekunde - für einen winzigen Augenblick - auf das Gefühl, das sich aus dem Schmerz eines gebrochenen, zerschmetterten Herzen und dem innigen Wunsch bildete, dass sie - ihr Geist - das tat. Der Mann gab sich der Sehnsucht ganz hin. Wärme erfüllte sein Herz, das sich plötzlich wieder lebendig anfühlte und das Atmen bereitete ihm keine Qualen mehr. Für einen Moment meinte er ihr leises, schüchternes Lachen zu hören, das ihm wie ein Messerstich durch sein zentrales Organ fuhr.

»Marseille? Was machst du denn hier?«

Das Ertönen von Vegas Stimme ließ den großgewachsenen Mann zusammenzucken. Die Frau trat neben ihn an die Reling. Unter ihren grünen Iriden lagen tiefe Schatten und ihren Wangen fehlte die feine, gesunde Röte. Auch sie hatte die letzten Nächte nicht schlafen können und sich nach der frischen Luft, dem kühlen Wind und dem Anblick des Meeres gesehnt. Jedes Mal, hatte sie Marseille an dem Deck des Schiffes stehen und leiden sehen, doch sie hatte sich nicht getraut zu ihm zu gehen. Sie fürchtete sich vor dem unmaskierten Gesicht des Mannes, der immer eine steinerne Mimik aufgelegt hatte, wenn sich Menschen um ihn scharten, die denselben Schmerz wie er empfanden – oder zumindest eine ähnliche Form dessen. Aber in dem Schein der aufgehenden Sonne wirkte er zerbrechlich und niedergeschmettert – genauso verstört wie die anderen es offen zur Schau stellten, um gemeinsam trauern zu können. Vegas sah den qualvollen, ungefilterten Schmerz in seinen braunen Seelenfenstern.

Sie hatte ihre Zwillingsschwester verloren, die ihre beste Freundin war, seitdem sie denken konnte. Der Verlust fraß sich auch bei ihr tief ins Fleisch und schien sie schier in die Verzweiflung zu reißen. Die Scherben waren von Angeles erfolgreich aus ihrem Körper entfernt worden, übrig waren nur noch offene Wunden geblieben, die bald verheilen würden. Bald würde sie nur noch kleine Naben an das zerbrochenen Fenster erinnern – zumindest im rein physisch betrachteten Sinne.

»Ich hätte nicht zu lassen dürfen, dass sie das allein macht!«, presste Marseille mit vor Schmerz und Wut verzerrten Stimme hervor. Eine Träne sickerte seine eingefallene Wange herunter.

»Sowas darfst du nicht denken, Marseille! Du hättest nichts machen können, um sie zu retten. Niemand hätte das! Wir konnten nicht wissen, dass Thomas...dass Thomas bewaffnet ist. Gib dir nicht die Schuld! Bitte!«, sagte sie und versuchte so überzeugend wie möglich an seinen Verstand zu appellieren, dem doch irgendwie klar sein musste, dass er rein gar nichts hätte verhindern können!

Selbstverständlich machte sich die Dunkelhaarige auch große Vorwürfe. Spätestens in der Nacht, holten sie die Zweifel und Schuldgefühle ein. Denn wenn sie besser aufgepasst hätte, dann wäre es unter Umständen nicht zu diesem schrecklichen Moment gekommen und Phoenix, würde noch leben. Aber sie selbst wusste, dass das Geschehene nicht rückgängig gemacht werden konnte. Wenn man doch nur durch die Zeit reisen könnte, dachte sie häufig. Wie oft hatte sie sich mit ihrer Zwillingsschwester darüber gestritten? Und wie sehr wünschte sie sich jetzt, dass sie unrecht gehabt hätte und sie sie zurückholen könnte?

»Bitte verschließe dich nicht vor deinem Schmerz, Marseille und rede mit jemanden darüber, was du empfindest. Sie hätte nicht gewollt, dass du daran zerbrichst.«, hörte sie sich leise murmeln und legte ihre Hand auf seine eisigkalten Finger.

Ein bitterliches Geräusch drang über seine bebenden Lippen, als er seine Hand ruckartig wegzog. »Ich kenne nicht mal ihren richtigen Namen!«

Vegas schluckte schwer. »E-emi...milia. Sie hieß Emilia.«, wisperte sie und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, während eine unsichtbare Macht sie zu ersticken drohte.

»Emilia.«, wiederholte Marseille seltsam tonlos den Namen der Frau, in die er sich unwiderruflich und aus heiterem Himmel verliebt hatte. Unvermittelt begannen seine Schultern zu beben, erst ganz leicht, so dass es der Frau beinahe nicht aufgefallen wäre, wenn sie nicht aufmerksam darauf geachtet hätte, dann wurde er von heftigen, unkontrollierten Krämpfen erschüttert. Der Mann brach zusammen. Schlaff wie ein nasser Sack fiel er auf den Boden, seine Finger umklammerten immer noch die Reling. Weiß traten seine Knöchel hervor, so fest hielt er sich daran fest. »Emilia.«, wimmerte er.

Die Frau ließ sich neben ihm nieder und legte behutsam ihre Arme um den zitternden Mann. »Du kannst nichts dafür, dass Emilia tot ist.«, flüsterte sie ihm – aber auch sich selbst – zu.

Sie saßen lange dort auf dem Deck des Schiffes, das sie aus Spanien brachte. Der Wind wurde sanfter und ließ lediglich ihre Haare sanft hin und her schwanken. Die Sonne, der Stern, welcher immer wieder die Nacht verdrängte und die Welt mit seinem gleißenden, wärmenden Licht erhellte, malte den Horizont in sanften Tönen an.

»Weißt du, ich habe mal von jemandem gehört, dass Gott jeden Künstler nach seinem Tod einen Sonnenuntergang malen lässt...«, erzählte sie, derweilen ihr Blick auf das Farbspiel am Himmel gerichtet war.

Das entlockte ihm ein heiseres Lachen. »Lass mich raten, das hast du von Phoe- Emilia, oder?«

»Von wem auch sonst? Sie hat jeden Abend aus dem Fenster gesehen und sich die Abendröte angesehen. Jeden Abend hat sie am Fenster gestanden und Minuten lang in den Himmel geschaut.«, erwiderte Vegas und ein kleines Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Aber nachdem unsere Eltern gestorben waren, hat sie damit aufgehört...An dem Abend als...«, sie stockte kurz, ehe sie mit zitternder Stimme weitersprach, »...ich habe aus dem Hubschrauber direkt den Sonnenuntergang gesehen. E-es war der wunderschönste Sonnenuntergang, den ich je gesehen habe!« Tränen brachen aus ihr heraus und der Schmerz, welcher schier unüberwindbar schien, loderte in ihr wie Flammen.

Sie schwiegen eine Weile und versuchten beide mit dem Emotionen in ihrem Inneren klarzukommen, während sie dem aufgehenden Stern zusahen, welcher immer weiter den Horizont hochkletterte.

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Hola.

Was hältst du von ,Phoenix/Emilias Sonnenuntergang-Theorie'?
Meiner Meinung nach ist es ein schöner und tröstlicher Gedanke, der jedem Sonnenuntergang einen besonderen Hauch von ,Magie' und Bedeutung verleiht.

Ich hoffe, das Kapitel hat dir gefallen.

Vielen Dank fürs Lesen.

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Goldene Erinnerungen | LCDPWo Geschichten leben. Entdecke jetzt