Zur Hölle, wie sagt man seiner Schwester etwas, von dem man weiß, dass es ihr das Herz brechen wird? Vermutlich am besten gar nicht. Aber das ist leider keine Alternative, also versuche ich einfach, es so schonend und schnell wie möglich hinter mich zu bringen.
Ich räuspere mich und atme noch einmal tief ein und aus, bevor ich endlich mit der Sprache rausrücke „Weißt du, Liz, seit wir hier sind hatte ich endlich mal Zeit, über ein paar Sachen nachzudenken, die mir schon länger im Kopf herumschwirren. In den letzten beiden Jahren bin ich vor lauter Action und Terminen gar nie dazu gekommen. Und dabei ist mir so einiges klar geworden, oder wenigstens klarer."
Während ich meinen Satz so in der Luft hängen lasse, fixiere ich eines der großen, gerahmten Schwarzweißfotos, die die gegenüberliegende Wand zieren. Es zeigt einen muskulösen Sportler, der durch den Wald läuft. Ich brauche ein paar Sekunden, um mich zu sammeln und mir meine nächsten Worte zu überlegen, und wenn ich ehrlich bin, kann ich Liz gerade nicht in die Augen sehen.
„Aha? Lässt du mich an deinen neuen Erkenntnissen auch teilhaben?", hakt sie nach, als eine ganze Weile vergangen ist. Ich zucke zusammen. Offenbar war ich in eine Parallelwelt abgedriftet, aber leider bin ich nun wieder im Hier und Jetzt angekommen. Ich drehe mich zu meiner Schwester um und zwinge mich dazu, ihr ins Gesicht zu schauen.
„Hast du dich eigentlich schon mal gefragt, ob wir beide mit Hurricane eigentlich unseren eigenen Traum leben oder nicht viel eher den von Mum?"
Gut, der erste Schritt ist gemacht. Über diese Frage wird sie wohl erstmal nachdenken müssen.
Ihre Augenbrauen zucken nach oben und verbleiben dort eine ganze Zeit lang. Schließlich schüttelt sie mit entgeisterter Miene den Kopf.
„Das ist doch Quatsch, Jo. Mum hat uns niemals zu irgendwas gezwungen. Im Gegenteil, sie hat uns jedes Mal gefragt, ob wir das alles auch ganz sicher machen wollen."
„Vielleicht war das ja gerade ihre Taktik?"
„Na gut, erzähl's mir. Wie kommst du darauf?" Ihr Tonfall hört sich resigniert an und sie seufzt. Sie weiß genau, dass nichts, was sie sagt oder tut, mich davon abhalten wird, ihr das mitzuteilen, was ich ihr meiner Meinung nach sagen muss. Meine Schwester kennt mich verdammt gut.
Ich nehme erneut einen tiefen Atemzug, bevor ich ihr erkläre, worüber ich in letzer Zeit nachgedacht habe. „Also, stell dir vor, du bist eine junge Frau mit achtzehn. Du bist gerade aus deinem spießigen, kleinen Dorf in der Nähe von Stuttgart nach Los Angeles geflüchtet, weil du es dort nicht mehr ausgehalten hast. Du bist eine leidenschaftliche Gitarristin, du bist in einer Band und deine Band beginnt damit, Erfolg zu haben. Also brichst du dein Studium für deine Musikkarriere ab. Du lebst deinen Traum und bist damit ganz glücklich. Das geht ein paar Jahre lang so. Du bist inzwischen zweiundzwanzig und deine Band wird immer bekannter, doch dann triffst du einen Typen. Vermutlich verliebst du dich in ihn. Du kennst ihn noch nicht besonders lange, als du ungeplant schwanger wirst, und zwar mit Zwillingen. Der Typ ist das krasse Gegenteil von dir, ein Geschäftsmann aus guter Familie. Er mag die Musik, die du machst, nicht mal besonders. Dein Traum verpufft mit einem großen Knall und mir nichts dir nichts findest du dich wieder im Haus deiner konservativen Eltern in einem spießigen, kleinen Dorf in Deutschland mit zwei Babys an der Backe."
Liz schluckt deutlich sichtbar. „Okay. Aber was hat das mit uns und unserer Karriere als Musiker zu tun?"
„Es geht ja noch weiter, Sis. Also, stell dir vor, du hast diese zwei Kinder, die anscheinend auch ein gewisses musikalisches Talent mitbringen und ganz nett aussehen. Du beschließt, absolut alles zu tun, um ihnen das zu ermöglichen, was du selbst nicht geschafft hast. Also steckst du sie mit fünf Jahren in den Musikunterricht und lässt sie mehrere Instrumente lernen. Später kriegen sie noch Gesangsunterricht. Sie haben nicht gerade viele Freunde, weil ihre Nachmittage komplett verplant sind und sie mit Schule, Instrumente üben und Hausaufgaben rund um die Uhr beschäftigt sind. Sie beschweren sich nicht, weil sie es ihrer Mum recht machen wollen. Ihr Dad ist sowieso kaum zu Hause und ihre Mum macht irgendwie immer so einen traurigen Eindruck. Die Kids wollen sie glücklich machen. Dann steckst du die beiden in ein Musikgymnasium. Mit fünfzehn ermunterst du sie, eine Band zu gründen. Du schaltest Inserate und castest selbst die Bandmitglieder. Du hast noch einige Kontakte von früher, damit verschaffst du der Band Auftritte und sie hat sogar relativ schnell einen gewissen Erfolg. Dann nimmst du deine Kinder von der Schule, damit sie sich auf die Musik konzentrieren können. Die Kids sind Feuer und Flamme, weil sie in dem Glauben leben, damit ihren Lebenstraum zu verwirklichen."
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Rock me, Baby! ✓
عاطفية⩥ NEW ADULT ROMANCE ⩤ Für das achtzehnjährige Zwillingspaar Liz und Jo Wagner läuft es perfekt. Die beiden haben wohlhabende Eltern, sind talentierte Musiker, ihre Band ist erfolgreich und sie haben gerade ihren ersten Plattenvertrag ergattert. Doc...