Schuld

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„Nein", sagte Tabitha schnell, denn es tat ihr leid, dass er sich zurückgewiesen und sehr wahrscheinlich sogar schuldig fühlte, „das ist nicht der Grund. Es liegt nicht an dir." Kyron nickte zaghaft, aber sein Blick war dennoch verzweifelt.

„Hör zu", setzte sie sanft zu sprechen fort und wusste dabei selbst nicht genau, worauf sie hinauswollte. „Wenn ich wünschen würde, dass ein Mann", sie unterbrach sich kurz. "Dass ein Knabe", korrigierte sie, "bei mir liegt, dann wäre alles, was du tust, dann wärest du, wie du bist, perfekt. Aber es ist nun einmal so, dass ich kaum etwas weniger begehre." Kyron nickte noch einmal, aber es war nicht klar, ob er es aus Gehorsam tat oder weil er begriffen hatte. Jedenfalls schienen Tabitha seine Augen nicht mehr so voller Enttäuschung zu sein wie zuvor. Und doch spürte sie, dass ihre Worte nicht ausgereicht hatten, um sich ihm zu erklären.

„Wenn ich ehrlich sein soll", fuhr sie deshalb fort. „Ich hasse es, berührt zu werden." Das war nicht immer so, hätte sie ergänzen wollen, doch sie tat es nicht. Es gab einmal einen, nach dessen Berührungen ich mich gesehnt habe, dachte sie. Die kurzen Augenblicke, in denen Jonathan ihre Hand gehalten hatte. Oder wenn er vorgegeben hatte, sie nach dem Reiten beim Absteigen auffangen zu müssen. Im Raum war es still. Kyron betrachtete sie aufmerksam, seine Angst schien allmählich schwächer zu werden. „Du hasst es auch", fügte Tabitha hinzu und sah, wie Kyron rot wurde. Beschämt blickte er auf den Boden.

„Wie kommt ihr darauf?" fragte er leise mit einem schuldbewussten Unterton.

„Ich habe es gespürt", antwortete Tabitha freundlich. „Als ich heute in der Früh meine Hand auf dein Haar gelegt habe, bist du ausgewichen."

„Verzeiht mir, Herrin", stammelte er. „Das wird nicht mehr vorkommen."

„Da gibt es nichts zu verzeihen", erwiderte Tabitha bestimmt. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Es ist, als ob du nicht atmen könntest, als ob dein Herz zwischen zwei Felsen zerdrückt würde." Sie hielt kurz inne. Etwas wie eine Träne glänzte in Kyrons Augen. „Und du kannst nichts dagegen tun", ergänzte sie. Dann schwiegen sie beide. Sie waren einander so nah, dass einer den anderen atmen hören konnte. Dabei lag eine Vertrautheit zwischen ihnen, die derart groß war, dass Tabitha zum ersten Mal den Wunsch verspürte, von der Sukkot-Nacht zu erzählen. In ihren Gedanken formulierte sie bereits die Sätze. Sie wollte ihm alles anvertrauen, den Ekel, die Gewalt, den Schmerz. Sie wusste, dass Kyron sie verstehen würde. Und doch blieb sie stumm. Es gehört sich nicht, sagte sie sich, meine Schande mit einem Sklaven zu teilen.

„Wenn ich also nicht bei euch liegen soll", setzte Kyron schließlich zaghaft zu sprechen an. „Was könnt ihr dann mit mir anfangen?"

„Ich weiß es nicht", antwortete Tabitha offen und bereute es im selben Moment, denn Kyrons Gesichtsausdruck war nun so verzagt, dass sie das bloße Betrachten schmerzte. „Aber mir fällt bestimmt etwas ein", fügte sie schnell hinzu. „Du bist klug und geschickt. Du kannst alles lernen, was du willst." Langsam hellte sich seine Miene etwas auf. „Kannst du lesen und schreiben?" erkundigte sich Tabitha.

„Nein, leider", Kyron schüttelte den Kopf, als ob es sich um ein Versäumnis seinerseits handelte.

„Damit beginnen wir", stellte Tabitha energisch fest. „Morgen besuchen wir meine Eltern. Dann werde ich Vater bitten, dass du am Unterricht meiner Brüder teilnehmen darfst."

Kyron sah seiner Herrin fassungslos in die Augen. „Aber ich bin ein Sklave."

„Mein Vater wird bestimmt einen Weg finden", sagte Tabitha beruhigend und dachte dabei an Seraja, an seine freundliche, gütige Art und an all die Menschen, denen sie ihn schon hatte helfen sehen. Und an die Erzählungen, die man ihr zugetragen hatte. Von Dan, den seine Mutter am Tempelberg ausgesetzt hatte und den Seraja wie einen eigenen Sohn aufgezogen hatte.

„Wirklich?" flüsterte Kyron schüchtern. Seine schönen Augen glänzten vor Freude. Nur wie er gekleidet ist, wird Vater nicht gefallen, dachte sie.

„Aber als erstes soll dir Martha etwas Ordentliches zum Anziehen geben", ergänzte sie freundlich. „Einen Chiton mit Gurt und langem Mantel." Sie ließ ihren Blick noch einmal über seinen wohlgeformten Körper und über den spärlichen Stoff gleiten, der einige wenige Bereiche wie zufällig bedeckte. „Und Kyron, mir gefällt es besser, wenn du deine Augen nicht schwärzt und kein Puder aufträgst."

„Ja, Herrin", antwortete Kyron gehorsam und Tabitha hatte den Eindruck, dass auch ein wenig Erleichterung in seiner Stimme lag. „Darf ich euch etwas fragen?"

„Natürlich", Tabitha nickte ihm aufmunternd zu.

„Wenn ich mich umgezogen habe, kann ich dann in den Stall gehen und fragen, ob sie eine Arbeit für mich haben?" Tabitha bejahte wieder und Kyron verbeugte sich tief. „Ich weiß nicht, wie ich euch danken kann, Herrin", flüsterte er und verließ dann ohne auf eine weitere Reaktion zu warten, den Raum.

Jetzt endlich war Tabitha allein. Denn obwohl ihr die Gegenwart Kyrons vielleicht sogar eine willkommene Ablenkung gewesen war von den Ereignissen des Morgens, war ihr immer mehr bewusst geworden, wie sehr sie sich nach Einsamkeit sehnte. In Eleazars Haus war alles anders als zuhause. Was immer sie tat, es war von Bedeutung. Jedes Wort konnte ungeahnte Folgen haben. Tabitha griff nach einem der Zierkissen und lehnte es gegen die Wand. Dann ließ sie sich nach hinten sinken. Den Blick richtete sie aus dem Fenster. Er war unstet, vermochte kein klares Bild zu fassen. An den ausladenden Blättern einer Palme blieb er schließlich hängen. Sattes Grün vor einem klaren Blau, Farben so intensiv, wie sie nur die Mittagssonne zaubern konnte. So bin ich also schuldig geworden, sagte sich Tabitha, schuldig am Tod eines Menschen. Der Gedanke kam und er ging. Die Palme stand unverändert vor demselben blauen Himmel. Und Tabitha tat nichts, nichts außer zuzulassen, dass die Zeit verging.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt