Nayla

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Als Silas wieder zu sich kam, war er allein in einem kleinen Raum. Die Wände waren aus Holz, durch das Fenster fiel Licht, von draußen hörte er Stimmen, geschäftiges Treiben. Es war also Tag und es wurde gearbeitet. Silas lag auf mehreren Holzlatten, die den sandigen Boden bedeckten, und versuchte vorsichtig, wieder die Kontrolle über seinen Körper zu erlangen. Er bewegte seine Hände und stellte fest, dass sie nicht gefesselt waren. Seine Füße dagegen wurden von schweren Holzblöcken festgehalten. Er drehte seinen Kopf etwas mehr zur Seite, zum einen, weil er auf diese Weise einen besseren Blick auf die Tür hatte, zum anderen, weil er damit die aufgesprungenen Lippen und das geschwollene rechte Auge in eine größere Entfernung zum staubigen Untergrund bringen konnte. Seine Bewegungen waren überschattet von einem einzigen gewaltigen Schmerz, der von den Halswirbeln ausging und erst unterhalb der Hüfte langsam verebbte. Sein Rücken glich einer offenen Wunde, sogar die Berührung mit der Luft, jeder kleine Windhauch verursachte ihm entsetzliche Qualen. Da wurde die Tür geöffnet und ein alter Mann, der mit einer langen weißen Tunika bekleidet war, betrat den Raum. Einen Moment blieb die Tür offen. Dann hörte Silas Schritte, wie er sie bereits kannte, und eine Stimme, die ihm vertraut war.

„Etwas mehr Demut würde dir nicht schlecht stehen, jüdischer Sklave."

Silas hielt den Atem an. Sie waren gekommen, um die Bestrafung fortzusetzen. Darin bestand kein Zweifel. Dass ein Sklave während der Züchtigung in Ohnmacht fällt und sich damit der Abrechnung entzieht, wird an keinem Ort auf der Welt geduldet, sagte sich Silas und schluckte dabei seine Angst tapfer hinunter.

„Ich habe auch einen Namen", erwiderte er trotzig.

„Ich sehe, du hast genau verstanden, was ich dir gesagt habe", antwortete die Ägypterin und ihre Worte hatten einen strengen Klang. Dennoch kam es Silas einen Moment so vor, als wäre die Härte nur gespielt. Was gibt es denn noch zu verlieren, dachte er und wandte sich mit aller Selbstsicherheit, die er aufzubringen vermochte, an die junge Herrin: „Dann habt ihr eben einen weiteren Grund, mich zu züchtigen."

Das Mädchen lachte spitz auf und Silas wusste nicht, ob er ihre Wut gereizt hatte. „Ich brauche keinen Grund, um einen Sklaven zu züchtigen", sagte sie herablassend.

„Natürlich", entgegnete Silas schnell. Seine Stimme klang bitter.

„Außerdem überlasse ich das lieber meinem Bruder", fügte sie hinzu und richtete sich zugleich an ihren Diener. „Iri!" befahl sie ihm und der entschlossene Tonfall ließ Silas erzittern. Der alte Mann kam näher an ihn heran. Iri war ein Wort, das er von den Aufsehern schon öfter gehört hatte. Es sollte etwas wie „Mach es!" bedeuten. Da Silas keine Schwäche zeigen wollte, zwang er sich so zu tun, als würde er den Bewegungen des Alten keine Beachtung schenken. Tatsächlich aber galt seine ganze Aufmerksamkeit den spärlichen Geräuschen, die der Diener der jungen Frau erzeugte. Silas vermied es, sich ihm zuzuwenden, aber was er hörte, deutete darauf hin, dass der andere etwas in seinem Beutel suchte. Ein Züchtigungsinstrument, das Silas noch nicht kannte? Schlomo hatte wohl Recht gehabt. Er war allzu unerfahren und würde der neuerlichen Abstrafung hilflos ausgeliefert sein. Silas spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.

„Was soll er denn tun, wenn ihr das Prügeln angeblich eurem Bruder überlassen wollt?", erkundigte er sich und es gelang ihm nur schlecht, seine Unruhe zu verbergen.

Wieder lachte seine Herrin, diesmal klang ihr Lachen sanft, fast mitleidig. „Er soll deine Wunden versorgen, du Dummkopf", schimpfte sie, doch es lag keine Strenge in ihren Worten.

„Verzeiht mir", flüsterte Silas und wurde zugleich von einem Gefühl der Scham wie der Erleichterung überwältigt.

„Schon gut", sagte das Mädchen. Sie ging in die Hocke, und der schwere bunte Saum ihres langen Kleides bedeckte ein kleines Stück Boden. Mit der rechten Hand berührte sie leicht seinen Kopf, streichelte ihm sanft das Haar. „Du kennst mich noch nicht." Einen Moment lang wollte Silas weinen. Die Selbstbeherrschung, um die er seit seiner Gefangennahme gerungen hatte, erschien ihm mit einem Mal kein erstrebenswertes Ziel mehr zu sein. Vielmehr sehnte er sich danach, seine Schwäche und Angst endlich zuzulassen, sich von der schönen Ägypterin trösten zu lassen, die Augen zu schließen und am besten nie wieder zu erwachen, so unmöglich das auch war. „Du sprichst Demotisch?" fragte sie nach einer Weile.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt