Ewiges Leben

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Anek musste den Hof schon eine Zeit lang verlassen haben, als Aqurakamani langsam aufstand und den anderen Sklaven befahl, Silas in den Schlafraum zu bringen. Silas wusste nicht, wie viele Hände es waren, die ihn trugen, aber er begriff, dass sie es mit großer Fürsorge taten. Auch halfen sie ihm, den Lendenschutz wieder anzuziehen, schlossen den Stoff behutsam über das wunde Gesäß. Dann legten sie ihn vorsichtig auf den Boden ihrer Kammer, jemand hob seinen Kopf an und schob ein Stoffbündel darunter. Jetzt liege ich sogar besser als zuvor, dachte Silas zynisch und öffnete kurz die Augen. Panos, der mit ihm gemeinsam die Stallarbeit verrichtete, kniete vor ihm und betrachtete ihn mit sorgenvoller Miene. Er hielt Silas die Öffnung eines Lederbeutels an den Mund und ließ ihn ein paar Schlucke Wasser trinken. „Danke", flüsterte Silas und gab der Schwere seiner Augenlider nach. Die Bewegungen um ihn herum wurden langsamer. Die Sklaven legten sich wieder hin, manch einer stöhnte noch unterdrückt, doch mit der Zeit verstummte auch das. Sie schlafen, sagte sich Silas und wartete, dass auch er einschlafen würde.

Doch der Schlaf kam nicht. Es waren nicht bloß die Schmerzen, die Silas wach hielten, und auch nicht ein Mangel an Müdigkeit, sondern die Verzweiflung, die ihn keine Ruhe finden ließ. Ich hätte in Jerusalem am Kreuz sterben sollen, ging es ihm durch den Kopf und er schämte sich im gleichen Augenblick für seinen Gedanken. Wähle das Leben, ermahnte er sich, das ist das Gebot, das Gott uns gegeben hat. Und doch: Einmal gedacht, ließ ihn das Bild des Todes nicht mehr los. Die Qualen, die Demütigungen, all das hätte ein Ende, überlegte er. Ein tiefer traumloser Schlaf, aus dem es kein Erwachen gibt, sagte er sich und empfand dabei eine Art Sehnsucht, die immer größer wurde. Er fragte sich, welche Todesarten in Frage kommen würden. Gift stand ihm keines zur Verfügung, noch war es ihm möglich, sich in ein Schwert zu stürzen. Balken und Seile gibt es aber wohl genug, dachte er bitter und ein Schauder überkam ihn. Er stellte sich vor, wie sein toter Körper am Strang hängen würde. Es hieß, der Darm und die Blase würden sich dabei entleeren. Silas musste würgen und versuchte sich einzureden, dass es doch einen Teil in ihm gab, der leben wollte. Aber war das wirklich so? Oder war nur seine Abscheu vor dem Strick zu groß?

Und wenn ich Anek absichtlich zur Weißglut bringe, überlegte er. Er hat schon Sklaven für viel weniger tot geschlagen, hatte ihn Nayla gewarnt. Silas war unsicher. Der heutige Abend hatte ihm gezeigt, dass sein Herr seine Wut durchaus zu kontrollieren wusste. Was wenn er ihn nicht sterben lassen würde? Wenn er sich immer neue Peinigungen ausdenken würde, ihn dabei aber doch am Leben ließe? Wenn er wirklich sterben wollte, dann musste er etwas tun, wofür man ihn sofort töten würde. Allmählich gewann der Gedanke klarere Konturen. Das nächste Mal, sagte sich Silas, wenn mich Anek auffordert, zu ihm zu kommen, werde ich vorbereitet sein. Ich werde einen Stock in meiner Hand halten, dachte er und wusste zugleich, dass es unmöglich war. Denn wie die meisten ägyptischen Sklaven waren sie bis auf den Lendenschurz nackt. Es gab also keine Möglichkeit, eine Waffe in der Kleidung zu verstecken. Es sei denn, es wäre eine Waffe, die man in der bloßen Hand oder unter einem Fuß verbergen konnte. Eine Scherbe, schoss es ihm durch den Kopf. Vor ein paar Tagen war in der Futterkammer ein schwerer Tonkrug zerbrochen. Und mit dem Bild jener Scherben, die Panos und er außerhalb der Palastmauern gebracht hatten, schlief Silas ein.

Am nächsten Morgen war alles wie immer und doch war es anders. Denn zum einen behandelten die übrigen Sklaven Silas noch immer zuvorkommend, beinahe respektvoll. Vielleicht regt sich in ihnen ein Widerstand und sie bräuchten nur einen, der ihnen Mut macht zu kämpfen, dachte Silas und ermahnte sich zugleich, vernünftig zu sein. Er hatte schon einmal versucht, einen Kampf gegen die Ungerechtigkeit zu führen und die Folgen waren verheerend gewesen. Außerdem hatte er in der letzten Nacht mit dem Leben abgeschlossen und er war nicht bereit, sich von diesem Leben noch einmal in Versuchung führen zu lassen. Nein, sein Tod war eine beschlossene Sache. Und das war auch der Grund dafür, warum Silas an diesem Morgen alles so viel leichter erschien. Obwohl es ihm nur mühsam gelang sich aufzurichten und ihm schon bei den leichten Arbeiten, die ihm Panos überließ, immer wieder schwarz vor Augen wurde, haderte er nicht mit seinem Schicksal, sondern empfand eine tiefe Ruhe, wenn nicht sogar Freude. Es wird bald vorbei sein, sagte sich Silas, er lächelte Panos zu und pfiff leise, während er den Eseln zu trinken gab.

„Silas? Komm zu mir, ich muss mit dir reden", hörte er da vom Hof die Stimme des Aufsehers. Silas versperrte den Verschlag der Esel mit einem Riegel und ging nach draußen. Aqurakamanis dunkles Gesicht war ernst, sein Blick traurig. Silas wartete, dass er weitersprechen würde, und betrachtete unterdessen den Boden unter seinen Füßen. Ungefähr hier musste er gestern vor seinem Herrn im Sand gelegen haben. Doch es gab keine Abdrücke, keine Spuren dessen, was er erlitten hatte. Zu viele Menschen waren am heutigen Tag schon über den Hof gegangen.

„Du bist wirklich ein Pechvogel, Kleiner", fuhr Aqurakamani fort und riss Silas damit aus seinen Gedanken. „Du sollst in den Süden und dort auf den Plantagen unseres Herrn arbeiten." Silas sah ihn fragend an, denn er hatte keine Vorstellung davon, was das Leben auf einer Plantage schlechter machen sollte, als das Leben, das er hier führte. „Die Arbeit ist hart", sagte der andere „und vor allem gefährlich. Wenn der Nil das Land überflutet, wird gepflügt und gesät. Und im seichten warmen Wasser, Silas, da lauern die Krokodile." Aqurakamani stockte und es tat Silas leid, dass er sich um seines Willen Sorgen machte.

„Und wie viele Sklaven frisst ein Krokodil so am Tag?" fragte er deshalb scherzend und stellte fest, dass dem Aufseher sogar ein kleines Schmunzeln über die vollen Lippen huschte.

„Von einem gut gebauten jungen Griechen wird ein Krokodil schon satt. Vorausgesetzt der hat sich nicht zuvor von seinem Herrn das ganze Fleisch von den Knochen peitschen lassen", antwortete er und schob Silas dabei weiter in Richtung Straße. „Sie warten schon auf dich", setzte er dann hinzu. „Das Schiff wird bald ablegen." Silas ging in die Richtung, die ihm Aqurakamani wies.

„Von wem kommt der Befehl?" fragte er noch, wie, um sich zu vergewissern, dass er auf der Plantage auch tatsächlich die Gelegenheit haben würde, Aneks Tod und damit seinen eigenen herbeizuführen.

„Der kommt von ganz oben", erwiderte Aqurakamani, dessen Mine längst wieder ernst geworden war. „Weißt du", sagte er, während sie langsam nebeneinander hergingen. „Ich hatte einen Sohn. Er war am Anfang seines Lebens", seine Stimme stockte, „aber er hat sich dem Herrn nicht so unterordnen wollen, wie man es von ihm erwartet hätte." Seine Stimme versagte. Silas betrachtete ihn von der Seite und es schien ihm, als suchte eine einzelne Träne ihren Weg über die schwarze Haut des Aufsehers. „Das tut mir von Herzen leid", entgegnete er und weil ihm seine Worte noch nicht besonders tröstlich vorkamen, fügte er hinzu: „Dort, wo er jetzt ist, Aqurakamani, geht es ihm gut."

Sie hatten inzwischen die Gruppe jener Sklaven, die wie Silas auf der Plantage arbeiten sollten, erreicht und Aqurakamani hatte Silas einen Platz in der Reihe zugewiesen. Er sah Silas ernst in die Augen.

„Die Nebet sagt, du bist ein Priester", flüsterte er.

„Ich weiß nicht, woran du glaubst", antwortete Silas leise, „Aber es gibt nur einen Gott, ganz gleich, wie wir Menschen ihn uns vorstellen oder wie wir ihn nennen. Und dieser Gott hat deinen Sohn längst in die Arme geschlossen."

Aqurakamani nickte ihm langsam zu, seine Züge waren jetzt weicher. Dann setzte sich die Gruppe in Bewegung. Stumm folgte Silas den übrigen Männern. Unter den Juden gab es unterschiedliche Meinungen darüber, ob die Toten ein ewiges Leben hätten, und Silas gehörte eigentlich zu jenen, die nicht daran glaubten. Dennoch ist es für einen trauernden Vater besser, auf ein schönes und gutes Jenseits zu vertrauen, dachte er und ließ sich dabei einen halben Schritt zurückfallen, damit er am Weg zum Hafen noch einmal die prächtige Architektur von Alexandrien bewundern konnte.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt