Abschied

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Da hörte er, wie jemand leise seinen Namen rief. Es war Nayla. Sie musste sich ihm unbemerkt genähert haben, denn als er sich zu ihr umdrehte, stand sie bereits eine Armeslänge vor ihm. Sie trug eine dunkle wollene Decke über ihrem Kleid, die sie eng um die Schultern gewunden hatte.

„Habt ihr euch verirrt?" erkundigte er sich kühl, denn er wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr er sich freute, sie zu sehen.

„Silas", wiederholte sie mit eindringlicher, beunruhigter Stimme. „Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich dich hergebracht habe." Silas sah sie verständnislos an. „Was mir der Verwalter alles erzählt hat. Es ist so gefährlich hier. Ich hätte dich nicht mitnehmen dürfen. Aber was gab es denn für eine Wahl? Anek, er hätte...", sie unterbrach sich. Sie sprach hastig, die Überlegenheit, die er von ihr gewohnt war, war verschwunden. „Willst du wieder mit auf das Schiff kommen und mich nach Syène begleiten? Aber Anek wird nachkommen." Es war dunkel und so erkannte Silas erst jetzt, dass sie zitterte.

„Ist euch kalt?" fragte er besorgt und sah dabei, wie Tränen über ihr zartes Gesicht liefen.

„Wenn dir etwas zustößt, Silas", schluchzte sie und zum ersten Mal sah er in ihr nicht die distanzierte, souveräne Herrin, sondern das junge zerbrechliche Mädchen, das sie trotz aller nach außen demonstrierter Stärke eben auch war. „Wenn dir ein Unglück geschieht, dann ist es allein meine Schuld." Sie weinte jetzt so hemmungslos, dass Silas nicht anders konnte, als Nayla in die Arme zu nehmen. Er hatte noch nie eine Frau, die ihm nahe stand, weinen sehen. Denn seine Mutter hatte als stolze Griechin immer größten Wert auf ihre stoische Gelassenheit gelegt. Unter der schweren Wolle spürte er Naylas zarte Schultern, das Beben ihres Brustkorbs, und er war darüber so bestürzt, dass er alles getan hätte, womit er sie nur ein wenig hätte trösten können. Doch es fiel ihm nichts Brauchbares ein und so stand er nur da, hielt den dünnen zitternden Frauenkörper in seinen Armen und hoffte, dass Nayla irgendwann wieder die überlegene, spöttische Frau werden würde, mit der man so ausgezeichnet scherzen und streiten konnte. „Es ist nur meine Schuld", wiederholte sie kläglich und jetzt endlich ergriff Silas die Initiative.

„Nein", sagte er und löste vorsichtig die Umarmung, sodass er ihr Gesicht sehen konnte. „Eure Schuld wäre es ganz bestimmt nicht." Dabei wischte er vorsichtig die Tränen von ihren Wangen und schämte sich zugleich dafür, wie rau seine Finger waren. „Es wäre meine Schuld. Ich hätte zuhause in Jerusalem nicht den großen Krieger spielen müssen. Ich hätte mich vor Schlomo erniedrigen und ihn um Hilfe bitten können. Und ich hätte euren Bruder nicht provozieren dürfen." Während er sprach, beruhigte sich Nayla allmählich. Sie weinte nun nicht mehr, aber ihre schwarzen Augen waren von einer so tiefen Traurigkeit, dass Silas in seinem Inneren eine große dunkle Leere spürte. „Gehen wir ein Stück", schlug er vor, vielleicht um ihrem Blick nicht mehr standhalten zu müssen, und sie nickte.

„Macht euch keine Sorgen", sagte er nach einer Weile. „Mir passiert nichts." Er betrachtete sie kurz von der Seite und fügte dann scherzhaft hinzu: „Ich bin nämlich unsterblich."

„Du bist dumm", schimpfte Nayla und schlug ihm mit der Faust leicht in die Rippen. Dabei musste sie lachen und Silas empfand ein Glück, das ihn die Unsicherheit und die Wut des Nachmittages vergessen ließ. Sie gingen langsam und ohne bestimmtes Ziel. Immer wieder streiften sie zufällig mit ihren Arme aneinander, woraufhin sie beide scheu zur Seite wichen. Nachdem sich das Ganze ein paar Mal wiederholt hatte, griff Silas ohne rechten Grund nach der Hand seiner Herrin und hielt sie in der seinen fest. Sie ließ es geschehen und so wurde ihr Gehen noch langsamer und von einem stillen Einverständnis getragen, denn keiner von ihnen sprach ein Wort. Nach einer Weile gelangten sie zur Einfriedung des Anwesens und Nayla deutete ihm mit einem Blick auf die Wachen umzukehren. Also spazierten sie wieder zurück, immer noch schweigend. Erst kurz bevor sie das Herrenhaus erreicht hatten, blieb Nayla stehen und sah Silas fest in die Augen.

„Wenn du also unsterblich bist", sagte sie im Scherz und keiner von ihnen konnte ein Schmunzeln unterdrücken. „Dann tu mir doch den Gefallen und warte hier auf mich." Obwohl Silas nicht wirklich wusste, wovon sie sprach, nickte er, denn die Vorstellung, sie könnte wieder zu weinen beginnen, beunruhigte ihn immer noch. „Es wird nicht lange dauern und mein Bruder wird heiraten. Vielleicht ein Jahr, vielleicht nur ein halbes. Aber dann wird er mit seiner Frau auf sein eigenes Landgut ziehen. Wenn es so weit ist, werde ich nach dir schicken und du kommst nach Alexandrien zurück." Allmählich begriff Silas, worauf sie hinauswollte. Wahrscheinlich erinnert sie sich daran, dass ich den Tod gesucht habe, und will mir eine Art Perspektive bieten, dachte er.

„Und wenn du zurück bist", fuhr Nayla mit eindringlicher Stimme fort, „werde ich dafür sorgen, dass du als Haussklave eingesetzt wirst. Du könntest für meinen Vater als Schreiber arbeiten, ihm deine schönen griechischen Geschichten erzählen." Sie machte eine kurze Pause. „Er wird dich mögen, Silas. Und dann, wenn er ganz von dir eingenommen ist, werde ich ihn dazu bringen, dich freizulassen." Silas lächelte. Der Eifer, mit dem sie sprach, berührte ihn. Und doch war da ein Stachel in seiner Brust. Ich bin nur ein Spielzeug, für das sie sich an einem Tag interessiert und das sie am nächsten Tag vergessen haben wird, sagte er sich. Auf reiche ägyptische Mädchen ist kein Verlass. Aber er wollte nicht unhöflich sein und so nickte er.

„Das klingt wie ein schöner Traum", erwiderte er tonlos.

„Vertrau mir, Silas", flüsterte sie und es klang wie eine Bitte.

„Ich habe euren Vater noch nie gesehen", entgegnete er. „Woher wollt ihr wissen, dass es mit uns gut gehen wird."

„Ich weiß es", antwortete sie mit einer Art, die keinen Widerspruch duldete. „Er ist menschenscheu, verlässt fast nie den Palast. Aber er wird deine Fähigkeiten schätzen und auch dein Wesen", ergänzte sie, „deine Aufrichtigkeit."

Meine Aufrichtigkeit, wiederholte Silas und senke unwillkürlich den Blick. War er wirklich aufrichtig? Wenn er im Herzen schlecht von ihr dachte, zugleich aber ihre Nähe suchte. Und zwar aus einem einzigen selbstsüchtigen Grund, weil es ihm in ihrer Gegenwart gelang, sein eigenes Elend zu vergessen.

„Ihr denkt, ich bin ein guter Mensch", stellte er fest, wie zu sich selbst.

„Ich weiß es", sagte sie noch einmal und befreite dabei ihre Hand aus der seinen. „Und jetzt leb wohl und pass vor allem auf dich auf." Ihre Blicke trafen sich noch einmal und Silas erkannte, dass ihre Augen wieder einen traurigen und besorgten Ausdruck angenommen hatten. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, war sie in der Dunkelheit verschwunden. Ihr schwarzes Haar und das Wolltuch fügten sich so selbstverständlich in den nächtlichen Palmenhain, dass Silas nur ihre hellen Fußgelenke blieben um auszuloten, in welche Richtung er ihr nachsehen konnte.

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt