Prinzen

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Ich öffnete die Augen.

Das erste, was ich dachte, war: Bücher, viel zu viele Bücher.
Ich stand inmitten von Regalen, die so hoch reichten, das sie die Decke berührten und jedes von ihnen war bis zur letzten Ecke voll mit...naja: Büchern!

Aber das verwirrte mich dennoch nicht im Geringsten so sehr wie die Tatsache, dass es weder Kerzen noch Kronleuchter gab. Weiße LED-Lampen hingen von den Decken hinab und beleuchteten die Bibliothek.

Eine Bibliothek, die beinahe so aussah, wie die, in welcher meine Mutter arbeitet...nein: Sie sah genauso aus!

Ach du heilige Scheiße!
Was war das denn?
Ein modernes Märchen!
Hilfesuchend blickte ich mich um, doch außer mir schien niemand im Raum zu sein.

Ich atmete tief durch. Bisher hatte ich alles überstanden, wieso also nicht auch ein modernes Märchen? Auch eine Schießerei konnte nicht so schlimm sein, wenn man unsichtbar war – und nach dazu ohne Materie!
Was sollte mir also schon geschehen?

Mit gerafften Schultern machte ich mich daran, die Bibliothek zu erkunden. Die Schilder, die ab und zu darauf verwiesen, um welches Genre es sich handelte, waren allesamt deutsch – wenigstens würde ich gleich keinem Engländer gegenüberstehen, um meine nicht vorhandenen Sprachkenntnisse zu beweisen.

„Entschuldige?"
Überrascht zuckte ich zusammen. Ohne, dass ich es bemerkt hatte, war jemand hinter mir erschienen.
Der junge Mann mit dem kurzen schwarzen Haar hatte den Kopf zur Seite gelegt und betrachtete mich, wie ich wiederrum ihn verwirrt betrachtete.

„Alles in Ordnung?", wollte er wissen – keine Spur eines Akzents. Wenigstens etwas!
Ich hob eine Augenbraue: „Offensichtlich ja nicht, aber das wirst du mir wohl gleich erklären!"

Wenn er derjenige war, der mich sah, würde ich wohl auch ihm aus der Patsche helfen müssen. Aber was für ein modernes Märchen handelte von einem jungen Mann, der in einer Bibliothek war?

Hatte er sich verirrt?
War er insgeheim Engländer und hatte seine eigene Heimatsprache verlernt, weshalb er nicht zurückkehren konnte?
Vielleicht, aber wenn das der Fall wäre, wäre ich mit Sicherheit nicht die Richtige, um ihm bei seinem Problem behilflich zu sein.

„Wieso sollte etwas sein?", fragte er verwirrt weiter.
„Ach komm schon, Junge", ich verdrehte die Augen, „umso eher du es sagst, desto eher sind wir hier wieder raus. Also, was ist es? Bist du eigentlich ein Frosch, der geküsst werden muss?"

Seine Reaktion irritierte mich mehr, als jedes Märchen es bisher getan hatte, denn der Fremde lachte nur: „Also so einen Anmachspruch hab' ich noch nie gehört. Aber sehr kreativ! Wie heißt du?"
Ich verstand nicht genug von dem, was er sagte, um mich zu rechtfertigen, also sagte ich bloß: „Alma. Und du? Lass mich raten. Wilfried? Heinz?"

„Tim."
Seine Antwort brachte mich dazu, beide Augenbrauen zu heben.
Tim...wie gewöhnlich...

„Also wenn du meinst, kein Problem zu haben, kannst du ja wieder abzischen?", murmelte ich, noch immer verwirrt durch seine unbekümmerte Art und wandte mich wieder ab.

Vielleicht war diese Welt anders. Möglicherweise konnte mich hier einfach jeder sehen.
Ich war keine drei Schritte gegangen, als ich wieder eine Stimme vernahm – doch dieses Mal nicht die von Tim.
„Sie ist ein dummes Mädchen", hörte ich Wilhelm schnauben.
„Wirklich ausgesprochen dumm", pflichtete ihm Jakob sogleich bei, wie er es nun mal immer tat!

Ich hielt inne, um mich umzusehen, doch keiner der Beiden war erschienen.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen drehte ich mich wieder zu dem Regal um, vor dem noch immer Tim stand.

„Tim?"
Ruckartig sah er von einem Buch auf: „Ja?"
„Welches Datum haben wir?"
„Den fünften Februar 2022."
Das Datum von dem Tag, an dem mir die Grimmbrüder begegnet waren – das heutige Datum!

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Stattdessen nickte ich nur und wandte meinen Blick hab.
„Das wars?", nun war es wieder Tim, der irritiert klang.
Wir warfen die Verwirrung regelrecht wie einen Tischtennisball zwischen uns hin und her. Nun war ich an der Reihe, verwundert dreinzublicken.
„Äh ja?", ich schaute erneut in seine Richtung.

Tim hatte das Buch wieder zurück ins Regal gestellt und die Arme vor der Brust verschränkt: „Kommt da jetzt kein: Eine Wahrsagerin hat mir einst prophezeit, dass ich an diesem Tag meinen Traumprinzen in einer Bibliothek treffen werde oder so?"

Prinz...
Das Wort hallte wie ein Echo in meinem Kopf nach.
Einen Prinzen treffen...

„Nein", entgegnete ich und schüttelte mich, um wieder zu mir selbst zurückzufinden, „aber es stand in meinen Glückskeks."
„Glückskekse sind neuerdings Datum-bezogen?"
„Nein, nur meine."
„Wieso nur deine?"
„Weil ich sie mir selbst backe!", allmählich stahl sich ein Grinsen auf meine Lippen.

Tim grinste zurück: „Lust auf Kaffee?"
„Solange wir ihn nicht in deiner einsamen Waldhütte trinken, wo du nachts um dein Feuer springst, während du planst, kleine Kinder zu entführen."

„Du bist verrückt, Alma", meinte Tim und schmunzelte mit gerunzelter Stirn.
„Glaub mir, je nach Welt bin ich überdurchschnittlich normal!"
„Na dann bin ich froh, dass wir in dieser Welt sind."

Auch auf dem Weg nach draußen, quatschten wir noch weiter und erst das Schild, über dem Eingang der Bibliothek ließ mich für einen kurzen Moment innehalten: Grimms Bibliothek.
Die Bibliothek, in der meine Mutter arbeitete...

Schnell schüttelte ich mich wieder ab und richtete meinen Blick zurück auf Tim: „Wohin gehen wir?"
„Wie wäre es mit Hildes Café."

Schon wieder habe ich diese kurze Vorahnung, dass all das wirklich nur ein Märchen ist, bis ich wieder nach vorne auf die Straße sehe.

Es stinkt nach Abgasen, die Bürgersteige sind voller fest getretener Kaugummis und ein paar Meter abseits qualmt es aus einem Mülleimer – das hier ist eindeutig die Realität!

Stirb nicht, Prinzessin | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt