Tochter Zion

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„Der Mistkerl hat sich den besten Zeitpunkt ausgesucht", sagte Antipater leise, als ob er bloß zu sich selbst spräche. Und doch hatte er nur allzu Recht. Denn nachdem der scheidende Proprätor Cornelius Lentulus Marcellinus mit dem größten Teil der römischen Armee nach Antiochien zurückgekehrt war, hatte der Prokonsul von Syrien, Aulus Gabinius, ein enger Verbündeter von Pompeius, gerade einmal genug Soldaten in Jerusalem gelassen, um die kleinen Revolten der Landbevölkerung und der messianischen Gruppierungen niederzuschlagen. Dafür hatte er mit großem Eifer damit begonnen, die Verwaltung neu zu organisieren und den Bau von selbständigen Städten voranzutreiben, die als Basis für die römische Kolonialisierung des Landes dienen sollten. Natürlich hätte sich Gabinius sofort bei seinem Amtsantritt mit der politischen Lage in Judäa befassen müssen, doch die Probleme in Jerusalem hatten für ihn bis dato offenbar keine Priorität gehabt.

„In dieser Stunde", begann Antipater nun mit lauter und tragenden Stimme, „gibt es nur ein Gebot, dem wir ohne jede Rücksicht auf Verluste oder auf unsere Überzeugungen Folge leisten müssen." Nervös fuhr sich Hyrkan mit den Händen durch das zerzauste, vom Schweiß verklebte Haar. „Wir müssen den Etnarchen schützen!"

Im Saal herrschte Totenstille. Schließlich erhob Herodes als erster das Wort: „Vater", stieß er unbeherrscht hervor. „Ihr werdet die Stadt doch nicht den Rebellen überlassen." Mit einer entschlossenen Geste befahl ihm Antipater zu schweigen und Herodes gehorchte widerwillig.

„Wollt ihr gegen ein Heer kämpfen, das dreimal so stark ist wie das unsere", fuhr ihn Eleazar scharf an. Antipater nickte ihm beschwichtigend zu und wollte schon dazu übergehen, seine Befehle zu erteilen, da setzte Hyrkan unvermittelt zu einem wirren Monolog an.

„Die Mauern", klagte er, „wir haben die Mauern nicht aufgerichtet. Sie liegen in Schutt und Asche. Was soll nun aus uns werden? Was soll aus Jerusalem werden? Weh dir, Tochter Zion! Zu Recht hat Jeremia gesprochen: Flieht, ihr Söhne Benjamin, aus Jerusalem hinaus, in Tekoa stoßt ins Horn und richtet ein Signal auf über Bet-Kerem! Denn Unheil erhebt sich drohend von Norden: ein großer Zusammenbruch." Hyrkan hielt inne und die anwesenden Männer schwiegen, zwar nicht, um den Worten des Propheten zu lauschen, sondern weil sie es für unklug hielten, den Etnarchen zu reizen. Einzig Eleazar hüstelte ungeduldig. „Die Schöne und die Verzärtelte vernichte ich, die Tochter Zion", fuhr der Hohepriester theatralisch fort. „Mein geliebtes Jerusalem, wie weh ist mir um dich, du Stadt ohne Mauern!"

In der Tat hatte Pompeius nach der Eroberung von Jerusalem beschlossen, die Stadtmauern zu schleifen, und er hatte seinen Plan auch weitgehend ausgeführt. In den vergangenen fünf Jahren war dann nur jener kleine Teil im Norden der Stadt, der an die Baris angrenzte, wieder aufgebaut worden. Abermals stöhnte Hyrkan laut auf.

„Ihr habt Antipater gehört", stellte Eleazar mit harter Stimme fest: „Es gibt nur ein Gebot. Morgen früh brechen wir auf. Alexander ist schnell, aber er wird noch einige Tage brauchen, bis er Jerusalem erreicht hat. Meine Späher haben berichtet, dass er bei jedem Wasserloch anhält und versucht, Ziegenhirten für sein Heer anzuwerben. Das kostet ihn Zeit." Eleazar warf Antipater einen fragenden Blick zu. Sollte er fortfahren oder würde der Strategos selbst die weiteren Anweisungen geben?

„Keinem von uns gefällt es, Jerusalem kampflos aufzugeben", fuhr Antipater an Eleazars Stelle fort. Das Einverständnis, das zwischen den beiden Männern herrschte, war nicht zu übersehen. „Wir marschieren mit der Garnison nach Jericho, dort ist der Etnarch in Sicherheit. Wenn Alexander Jerusalem eingenommen hat, wird er sich zum König ausrufen lassen." Er hielt kurz inne. „Gönnen wir ihm die kurze Freude. Denn sobald Gabinius eingetroffen ist, werden wir die Stadt mit Leichtigkeit zurückerobern."

Die weiteren Vorkehrungen waren schnell getroffen. Wie es in den letzten Monaten bereits immer wieder vorgekommen war, übernahm Antipater an Hyrkans Stelle das Kommando. Um die Form zu wahren, hatte er sich freilich zuvor noch theatralisch vor dem Etnarchen niedergekniet und dessen Segen, der im Wesentlichen aus ein paar unverständlichen Worten bestand, empfangen. Doch noch während die zitternden, klobigen Hände auf seinem Haupt ruhten, stand er schon auf und erteilte seine Befehle so klar und entschlossen, dass es für alle Anwesenden offenkundig war, dass Antipaters Plan nicht die Frucht einer durch das Gebet herbeigerufenen göttlichen Eingebung war.

Phasael und Herodes erhielten von ihrem Vater den Auftrag, mit Hyrkans Leibgarde und jenem Teil der römischen Truppen, den Calpurnianus befehligte, den Etnarchen nach Jericho zu geleiten sowie für die Sicherheit seiner Familie und des Hofes, der nun ebenfalls in die Palmenstadt ziehen musste, zu sorgen. Antipater selbst wollte hingegen mit den Söldnern seiner eigenen Elitetruppe den Legionen des Gabinius entgegeneilen. Auf diese Weise würde es ihm leicht gelingen sich unentbehrlich zu machen, wenn es darum ging, gemeinsam mit dem neuen Proprätor einen Plan für den Kampf um Jerusalem zu entwerfen.

Eleazars Aufgabe dagegen war ein zweifache. Er hatte zunächst dafür zu sorgen, dass der Palast in Jericho für die Ankunft des Etnarchen und seines großen Hofstaates, der mit den hohen Beamten und deren Familien, den Sklaven und Dienern mehr als dreihundert Personen zählte, bereit war. Da dies rasch bewerkstelligt werden musste, würde sich Eleazar noch in derselben Nacht auf die Reise in die Palmenstadt begeben. Sobald er Hyrkan und die Seinen aber in Jericho gut versorgt wüsste, sollte er den Nachschub für Antipater und gegebenenfalls auch für die Legionen des Gabinius organisieren. Waffen und vor allem Proviant mussten in beträchtlichen Mengen bereitgestellt werden. Die guten Handelsbeziehungen, die Eleazar und seine Männer in der gesamten Region unterhielten, würden dabei einmal mehr von Nutzen sein.

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