Kapitel 13

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Die Zimmerdecke besteht aus 36 großen Vierecken, die mit jeweils 4 kleinen Vierecken ausgefüllt sind.
Diese Decke besitzt also 144 kleine Vierecke und 36 große.

Das Zählen war eine angenehme Ablenkungsmethode.
Doch nun habe ich mit der Decke abgeschlossen und ich nehme mit das Piepen des EKGs vor.
Nach 180 Pieptönen geht die Tür auf und ein Mittdreißiger im weißen Kittel betritt den kleinen Raum.
„Visite.", murmelt er, den Blick auf sein Klemmbrett gerichtet.
Ich schaue durch ihn hindurch.
„Addison Dufour?"
Er blickt auf und erwartet, dass ich ihm meinen Namen bestätige.
Wieder bei meinem echten Namen genannt zu werden, fühlt sich ungewohnt an.
Ich nicke schwach.
Er seufzt tief und fährt sich einmal durchs kurzgeschorene Haar.
„Wissen Sie, was eine Paraplegie ist, Mrs Dufour?"
Er schaut über seine kleine Brille hinweg zu mir.
Unbeteiligt schüttele ich den Kopf.
Das Wort habe ich noch nie gehört, aber ich kann mir schon vorstellen, was der Doctor sagen will.
Und so ist es auch.
Meine untere Körperhälfte werde bis auf Weiteres gelähmt sein und auch bleiben.
Der harte Aufprall auf den Boden habe mir mehrere Schädigungen im Brustwirbelbereich zugefügt und das bedeutet nun lebenslange Taubheit in den unteren Extremitäten
Ich bemühe mich, diese Bestätigung meiner eigenhändig aufgestellten Diagnose zu überhören und starre weiter ins Nichts.
Mein Innerstes ist leer.
Ein großer Kloß erschwert mir seit ich aufgewacht bin das Atmen.
Mir es übel vor Kummer und Einsicht.
Ich werde nie wieder laufen können.
Ich werde mein gesamtes Leben in einen Stuhl auf Rädern gefesselt sein.
Der Doktor seufzt erneut, dreht sich um und verlässt das Zimmer.
Vor der Tür sehe ich meine Eltern stehen.
Ich empfinde nicht das geringste Bedürfnis mit ihnen zu reden oder sie gar in meiner Nähe zu haben.
Ich möchte alleine sein.
Alleine mit meinem Schicksal.
Es bringt rein gar nichts um meinen Lebensmut zu kämpfen.
Mein bisheriges Leben ist in einem Loch versunken.
Und von dort werde ich es nie wieder zurückholen können.
Es ist aussichtslos.
Meine Mutter klopft an die Tür, wartet aber nicht auf eine Antwort, sondern tritt gleich ein.
„Ich möchte allein sein.", flüstere ich mit schwacher Stimme und drehe den Kopf weg.
Sie zieht sich einen kleinen Hocker herbei und setzt sich zu mir.
Es herrscht eisige Stille im Krankenhauszimmer.
„Mäuschen, ich finde, du solltest dich nicht so hängen lassen. Dein Leben geht doch weiter. Du kannst dir deine Zukunft neu gestalten. Es wird alles gut werden."
Ja klar....
Ich atme tief ein.
Ich habe nicht einmal die Kraft sie anzuschreien.
„Bald beginnt deine Therapie. Ich habe ausführlich mit den Ärzten und Pflegern gesprochen und die können dir wieder zurück in den Alltag helfen. Ist ja alles halb so schlimm."
Da brodelt es in mir hoch.
Ich reiße den Kopf herum und blicke sie aus zornigen Augen an.
„Du weißt doch gar nicht, wie sich das anfühlt.", zische ich und balle wutentbrannt die Fäuste.
Mom verdreht die Augen.
Und da kann ich nicht mehr an mich halten.
„JETZT ERZÄHL DOCH KEINEN QUATSCH!", schreie ich los und Mom zuckt zusammen.
Doch darauf kann ich keine Rücksicht nehmen.
„Ihr habt euch nie wieder gemeldet. Seit ihr urplötzlich abgehauen seid, bin ich auf mich alleine gestellt. Nie kam die Frage, ob ich etwas brauche, ob es mir gut geht oder ob ich überhaupt noch lebe! Und dann taucht ihr hier einfach so auf und spielt die besten Eltern der Welt!"
Meine Stimme bebt vor Entrüstung.
Das EKG piept schnell und schrill, doch ich nehme es gar nicht richtig wahr.
Eine Pflegerin reißt die Tür auf.
„Beruhigen Sie sich bitte, Mrs Dufour.", sagt sie mit ruhiger einschmeichelnder Stimme.
„Seien Sie bloß still!", gifte ich sie an.
Ich kann meine Tobsucht nicht kontrollieren.
Wieso versteht denn keiner, dass ich so nicht weiterleben will?
Wieso sind alle so optimistisch meiner Zukunft gegenüber?
Ich will die Beine über die Bettkante schwingen, aufstehen und rausrennen.
Raus aus dieser Anstalt.
Vor das nächste Auto, damit dieser Horror endlich beendet wird.
Die Pflegerin verlässt rückwärts das Zimmer und winkt meine Mutter mit sich.
„Schatz, beruhig dich.", bittet Mom mit zitternder Stimme.
„Mach dass du rauskommst.", zische ich.
„Aber-"
RAUS!"
Mom hastet aus dem Zimmer.
Verstört klammert sie sich an meinen Vater und die beiden verschwinden.
Meine Atmung geht schnell.
Mein Puls ist hoch.
Das EKG piept unerbittlich.
Ich lasse mich erschöpft in das Kissen sinken und beginne hemmungslos zu schluchzen.
Diese ausweglose Situation zieht mich immer weiter in den Arme der Depressivität.

Nach einer Weile kann ich mich langsam beruhigen und finde wieder in die betäubende Starre zurück.
Deshalb merke ich nur im Hintergrund, dass die Tür geöffnet wird und eine Person den Raum betritt.

𝕾𝖈𝖍𝖓𝖊𝖊𝖘𝖈𝖍𝖎𝖈𝖐𝖘𝖆𝖑Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt