Es ist bereits Nacht, als mich laute Stimmen aus dem Schlaf reißen und bis in unser Zimmer im Obergeschoss unseres Wohnhauses dringen. Neben meiner Mum nehme ich auch die von ein paar Männern wahr. Zwei, vielleicht drei. So genau kann ich das nicht heraushören. Sie klingen fremd und aufgebracht. Und auch wenn sie versuchen leise zu sein, so kann ich sie doch hören.
Ich reibe mir müde die Augen und werfe im Dunkel unseres kleinen Zimmers einen Blick zum Bett gegenüber, in dem mein Bruder Jason eingekuschelt in seiner blauen Lieblingsdecke tief und fest schläft. Er ist erst sechs und damit halb so alt wie ich, allerdings hat er es faustdick hinter den Ohren. Sein blondes Haar fällt ihm in die Stirn und sein Mund steht offen. Er ist niedlich, wie er da so liegt. Den braunen Teddybären, den unser Vater von einem seiner vielen Einsätze mitgebracht hat, fest im Arm, wirkt er so unschuldig und rein, wie es ein Junge in seinem Alter nur sein kann. Er kann nerven und so unglaublich anstrengend sein. Noch dazu hat er ein unheimliches Talent dafür Ärger zu machen, den ich als ältere Schwester immer wieder abbekomme. Aber ich liebe ihn. Zumindest jetzt, wenn er schläft.
Ein Rumpeln reißt mich aus meinen Gedanken und das kurze Lächeln auf meinen Lippen erstirbt. Ich halte kurz inne, lausche den immer lauter werdenden Stimmen von unten und atme die angehaltene Luft aus, als ich die Situation allmählich einordnen kann. Zumindest glaube ich das.
Dad ist zurück.
Die Freude, die bei diesem Gedanken in mir aufsteigt, wird jedoch von der unüberhörbar angespannten Stimmung gedämpft, als ich aus meinem Bett steige und auf Zehenspitzen zur Tür gehe, um sie einen Spalt breit zu öffnen. Ich höre jemanden aufgeregt auf und ab laufen und erkenne die angsterfüllte Stimme meiner Mutter. Doch ich kann nicht eines ihrer Worte verstehen. Weint sie? Ein kalter Schauer erfasst meinen Körper und ein ungutes Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit.
»Natalie?«, höre ich plötzlich meinen kleinen Bruder nach mir rufen. Er hat sich etwas aufgerichtet und reibt sich müde die Augen. »Ist Dad zu Hause?«
»Schhh ... ja.«, flüstere ich und tapse lautlos über den großen, mit Straßen bemalten Spielzeugteppich zu ihm herüber. »Er ist zurück und wird morgen sicher mit uns zum Eishockey fahren. Jetzt schlaf weiter.« Ob das stimmt weiß ich nicht und auch wenn ich erst zwölf Jahre alt bin, kann ich doch spüren, dass heute etwas anders ist als sonst, wenn unser Dad nach Hause kommt.
Jason muss im Halbschlaf sein. Nur so kann ich mir erklären, dass er sich von mir ohne Widerworte sachte zurück auf die Matratze drücken lässt. Sonst funktioniert das nie. Ich decke ihn zu, streichele ihm ein paar Mal liebevoll über den Kopf, wie Mom es immer macht, und warte einen Moment, bis seine Atmung wieder tiefer und regelmäßiger wird. Dann verlasse ich das Zimmer und gehe die dunkle Treppe nach unten. Angespannt klammere ich meine Finger fest um das Geländer und spüre, wie mein Herzschlag sich mit jedem Schritt beschleunigt. Die alten Dielen knarren und sind kalt unter meinen nackten Füßen, doch das stört mich nicht. Vielmehr konzentriere ich mich auf das Stimmengewirr, dass immer lauter wird.
DU LIEST GERADE
Fleeting Moments - passing by
RomanceNatalie Dearing ist zwölf Jahre alt, als das Schicksal ihr ihre Eltern nimmt und sie von ihrem Bruder getrennt wird. Der damit verbundene Schmerz brennt sich tief in ihre Seele und lässt sie selbst viele Jahre später, als erwachsene Frau immer noch...