Die Gott liebt

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„Bitte", sagte Tabitha gedämpft. Sie hatte ihren Oberkörper gegen die Kissen gelehnt und eine der Decken über ihre Beine gezogen. „Mäßigt Euch."

Einen Moment lang blieb die Szene wie erstarrt. Tabithas Mägde hatten leise zu weinen begonnen, einem der Haussklaven stand der Angstschweiß auf der Stirn und der andere zitterte wie Espenlaub. Selbst Dan wirkte verschreckt. Er hielt sein Würfelspiel fest in die groben Hände eingeschlossen und presste die Fäuste angsterfüllt gegen seine mächtige Brust. Nur Kyron schien ruhig und gefasst, ja er sah Eleazar sogar in die Augen und etwas wie Trotz lag in seinem Blick. Er ist kein Knabe mehr, sagte sich Eleazar, in der kurzen Zeit, in der ich fort war, ist er erwachsen geworden. Mit der Zunge benetzte er seine Unterlippe und dachte dabei, dass von einem nicht mehr ganz so unterwürfigen Kyron durchaus ein neuer Reiz ausgehen mochte. Es wird sich schon Besseres finden lassen, als ihm das Schwert in die Brust zu rammen, ging es ihm durch den Kopf und er spürte, wie seine Wut immer mehr von Erregung überdeckt wurde. Doch selbst einem Mann wie Eleazar, der in keinster Weise gewillt war, seinen Sinnen eine Freude vorzuenthalten, war klar, dass es in diesem Augenblick tatsächlich geboten war, sich zu mäßigen. Er steckte das Schwert ein, wandte sich von der Dienerschaft ab und setzte sich auf einen Hocker neben Tabithas Bett. Zunächst blieb alles still und Eleazar war unschlüssig, was er als nächstes tun sollte.

„Hinaus", rief er dann unvermittelt. „Alle hinaus!" Die Sklaven folgten seinem Befehl und bald waren die Eheleute allein.

Eleazar wusste nicht, wie er das Gespräch beginnen sollte. In den kleinen Glaspailletten, die in die Decke eingewebt waren, spiegelten sich die Sonnenstrahlen, welche von Osten her durch das Fenster fielen. Allmählich begriff Eleazar, dass sein Haushalt in den Wochen seiner Abwesenheit keinen Schaden genommen hatte, und eine Art Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Zwar hatte seine Frau ihr Kind verloren, doch gab es schließlich Kinder genug auf der Welt und nicht zuletzt war es eines anderen Sohn gewesen. Eleazar hatte mehr als einmal einen Säugling sterben sehen oder selbst getötet. Auch wenn er es gewollt hätte, es wäre ihm nicht gelungen, ein Gefühl der Trauer zu empfinden. Das einzige, was ihn beunruhigte, war der Zustand, in dem sich Tabitha befand. Sie muss essen, verflucht, sagte er sich, essen und schlafen.

„Ich bin vermutlich nicht der Richtige, um euch zu trösten", sagte er nach einer Weile.

Tabitha richtete ihren leeren Blick auf ihn. „Sie haben es im Kidron Tal begraben."

„Man hat es mir berichtet", erwiderte er sanft. „Es ist sehr ungewöhnlich, eine Frühgeburt begraben zu lassen."

„Ich wollte es so", entgegnete Tabitha gleichgültig.

„Das dachte ich mir", antwortete Eleazar und konnte sich dabei nicht erwehren, ein Gefühl der Zuneigung für seine Ehefrau zu empfinden. Doch es war nur ein Hauch, der genau so schnell verging, wie er gekommen war. „Ihr müsst wieder zu Kräften kommen", fügte er entschlossen hinzu.

Tabitha lachte schwach und abwehrend, doch Eleazar ließ sich nicht beirren.

„Ihr dürft nicht an das eine Kind denken, das Ihr verloren habt, sondern an all die anderen, zukünftigen Kinder, die Gott für euch vorher bestimmt hat und die ihren Weg ins Leben nur finden können, wenn ihre Mutter gesund, stark und zuversichtlich ist." Tabitha reagierte nicht. Auch jetzt, da ihr Körper ausgezehrt war und die hohen Wangenknochen sich unnatürlich scharf unter der Haut abzeichneten, war ihre Schönheit außergewöhnlich. „Ihr müsst schlafen", flüsterte er und zog die Decke noch etwas weiter über ihre Oberschenkel.

„Ich bin müde", meinte sie vage, „und ich schlafe ein. Aber nach kurzer Zeit wache ich auf und alles in mir ist kalt und tot. Ich kann nichts sehen als das Antlitz des Todes und nichts empfinden als die Nähe des Scheol. Mir gegenüber und tief in mir drinnen. In meiner Brust und in meinem Herzen. Es ist", und dabei wurde ihr Blick zum ersten Mal intensiver, „als hätte ich keinen Anteil am Leben mehr." Eleazar hörte, wie sein eigener Atem lauter ging als gewöhnlich. Was sehe ich, wenn ich in der Nacht aufwache, fragte er sich und verdrängte den Gedanken im selben Augenblick.

„Ich bin kein frommer Mann, Tabitha", begann er leise und griff dabei nach ihrer Hand, die kalt und leblos auf dem Meer an Glaspailletten lag. „Aber wenn ich an etwas glaube, dann daran, dass Gott die, die er besonders liebt, früh zu sich holt. So wird es bei Eurem Kind gewesen sein." Er wartete und sah, wie einzelne stille Tränen über Tabithas blasse Wangen liefen.

„Und so war es auch bei meinem Bruder", fuhr er nach einer Weile fort. „Er war zwei Jahre jünger als ich. Er war anders. Ein guter Junge, immer freundlich und höflich. Er hat nicht gelogen, nicht seinen eigenen Vorteil gesucht." Ein Lächeln huschte über Eleazars harte Züge. „Eines Tages hat uns der Vater befohlen, zuhause zu bleiben und unsere Torahverse zu lernen. Aber ich habe Benjamin überredet, mit mir nach draußen zu kommen und zu spielen. Wir sind wie Diebe durch das Wassertor geschlichen, dann das Kidrontal hinunter gelaufen bis zu den Hügeln, wo kein Grün mehr wächst. Dort haben wir uns einen Hinterhalt gesucht und versucht, mit unseren Steinschleudern auf die Klippdachse zu zielen, die in der Sonne schliefen. Da hat Benjamin plötzlich aufgeschrien. Ein Skorpion hatte ihn gebissen."

Eleazar hielt kurz inne. Tabithas Hand war inzwischen warm geworden. „Er hat am ganzen Körper zu zucken begonnen, war über und über von Schweiß bedeckt, sein Atem ging nur noch stockend. Ich habe ihn nach Hause getragen, aber wir haben viel Zeit verloren, weil ich immer wieder rasten musste. Aus seinem Mund quoll gelber Schaum. Es roch nach Erbrochenem. Kurz nachdem wir daheim angekommen sind, ist Benjamin gestorben." Wieder wartete er und stellte dabei mit Erstaunen fest, dass Tabithas Hand sich in der seinen zu bewegen begonnen hatte. Vorsichtig erwiderte sie seine Berührung, strich mit dem Daumen sanft über seine Haut. Was für ein eigenartiges Gefühl, dachte Eleazar, Zärtlichkeit, für die ich nicht bezahlt und die ich nicht erzwungen habe.

„Die Gott liebt, holt er früh zu sich, hat meine Mutter damals gesagt." Er sprach schnell, denn mit einem Mal hatte er den Wunsch, ihre Zweisamkeit zu beenden. „Mein Vater", ergänzte er mit harter Stimme, „hat nichts gesagt. Aber so, wie er mich angesehen hat, wusste ich, was er dachte. Warum hat der Skorpion nicht dich gebissen? Das war es, was er an diesem Tag gedacht hat. Und an allen Tagen, die danach kamen, dachte er das Gleiche."

In dem Moment klopfte jemand. Es war Meschach. Hinter ihm in der halb offenen Tür stand Marc Anton. Noch bevor Meschach um Einlass ersuchen konnte, stand Eleazar auf und deutete ihm, den römischen Offizier herein zu bitten. Der musterte Tabitha mit einem kurzen kühlen Blick, ging dann zielstrebig auf Eleazar zu und umarmte ihn ohne jegliche Umschweife.

„Mein Freund", rief Marc Anton aus und klopfte Eleazar anerkennend auf die Schultern. „Gabinius ist über Eure Verdienste im Kampf hoch erfreut. Er hat Euch zum Vorsitzenden des neuen Synedrions von Jericho ernannt."

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