Treue

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Der Umstand, dass die beiden Soldaten, die Alexander bewachen sollten, schliefen, war nicht gerade geeignet, Peitholaos Laune zu verbessern. Wenn es ihm gelungen ist zu fliehen, sagte er sich, werde ich wirklich die Ziegen meiner Schwester hüten müssen. Sofern mir Gabinius nicht überhaupt ein schönes Kreuz errichten lässt. Aufmerksam betrachtete er den Boden vor dem Zelt und entschied sich schließlich für eine Richtung, in welche er den vermeintlichen Spuren Alexanders folgen wollte. Leise und vorsichtig tastete sich Peitholaos vorwärts. Dabei ärgerte er sich über den für diese Tageszeit ungewöhnlich starken Wind, der nicht nur den Sand vor seinen Füßen verwischte, sondern es ihm noch dazu fast unmöglich machte, Geräusche wahrzunehmen, die möglicherweise ein Anhaltspunkt hätten sein können.

Plötzlich war ihm, als hörte er eine menschliche Stimme. Mehr noch, einen Menschen, der monoton vor sich hinsang. Es waren dunkle und dabei warme Töne, voll von Trauer. Je näher Peitholaos kam, desto deutlicher erkannte er auch die Worte. „Taba'tij biwen mezulah we'ejn ma'amad". Ich bin versunken in tiefen Schlamm, kein fester Grund ist da. Ein Klagelied, schoss es ihm durch den Kopf und im nächsten Moment erkannte er auch schon Alexander, der hinter einem Felsvorsprung am Boden kniete und betete.

„Was tut ihr hier, verdammt", herrschte er den in sich zusammengesunkenen Mann an und näherte sich ihm mit kräftigen, entschlossenen Schritten. „Ihr wisst, dass ihr das Lager nicht verlassen dürft."

Langsam drehte sich Alexander zu ihm um. Seine Augen waren rot vom Weinen, Gesicht und Hände mit Asche verschmiert. Er tut Buße, dachte Peitholaos und schüttelte unwillkürlich den Kopf, denn er hatte noch nie einen Feldherren in einer so demütigen Haltung gesehen, geschweige denn einen Königssohn.

„Verzeiht mir, ich wollte beten", erwiderte Alexander ruhig. „Es ist Schabbat."

„Das mag schon sein", gab Peitholaos schroff zurück. „Aber wir sind hier nicht am Tempel und haben keine Zeit zu verlieren. Los, hoch mit euch, wir müssen weiter." Dabei packte er den anderen grob an den Oberarmen und zwang ihn aufzustehen. Die plötzliche Bewegung ließ Alexanders Hemd verrutschen und gab den Blick auf seinen linken Unterarm frei, der von frischen, kräftig blutenden Schnitten überzogen war. Erschrocken ließ Peitholaos seinen Gefangenen los und wich ein wenig zurück.

„Ihr seid verletzt", sagte er gepresst.

Alexander schüttelte den Kopf. „Ich trauere um meine Männer", antwortete er, „die für mich ihr Leben gelassen haben." Er sah Peitholaos fest in die Augen. „Um jeden einzelnen trauere ich. Versteht ihr das?" Seine Stimme wurde eindringlicher. „Wann werde ich damit fertig werden?"

Peitholaos hielt den Atem an. Er hatte bei Gott um vieles schlimmere Verletzungen gesehen, aber das Bewusstsein darum, dass es Wunden waren, die sich der Königssohn selbst als Akt der Buße zugefügt hatte, ließ ihn erschaudern. Jetzt entdeckte er auch das kleine Messer, das an der Stelle lag, wo Alexander zuvor gekniet hatte. Als hätte man es tief in Blut getaucht, sagte sich Peitholaos. Ärgerlich hob er es auf.

„Das kann ich euch nicht sagen", gab er grob zurück. „Aber für den Augenblick interessiert mich mehr, wie es einem Gefangenen so leicht möglich sein kann, an eine Waffe zu kommen."

„Ihr werdet deshalb doch keinen eurer Soldaten bestrafen?" fragte Alexander und ehrliche Sorge schwang in seinen Worten mit.

„Sagt ihr mir nicht, wie ich meine Männer zu behandeln habe", fuhr Peitholaos Alexander an und stieß ihn grob vor sich her in die Richtung, in der sich das Lager befand. Doch Alexander trotzte den Schlägen und Fußtritten, blieb stehen, wenngleich es ihn offensichtlich Mühe kostete, gegen die Kraft des anderen und gegen den eigenen Schmerz anzukämpfen. Er wandte sich Peitholaos zu und sah ihm direkt in die Augen. „Ihr ward schon als junger Bursche stärker als ich", sagte er mit einem vorsichtigen Lächeln auf den Lippen.

„Ich kann mich nicht erinnern", entgegnete Peitholaos kalt, als wollte er jede Verbindung, die zwischen ihnen hätte bestehen können, für immer zerstören. „Und jetzt beeilt euch gefälligst. Euer kleiner Ausflug hat uns schon genug Zeit gekostet."

„Herr", begann Alexander noch einmal, „Ich bitte euch, lasst mir nur einen kurzen Augenblick, damit ich mein Gebet zu Ende sprechen kann."

Peitholaos spürte, wie die Gefühle ihn immer mehr überwältigten. Zwar wusste er nicht, ob es Wut, Bewunderung oder Scham war, was seine Brust zum Beben brachte, doch war er sich sicher, dass er das Gespräch mit Alexander so schnell als möglich beenden musste, wollte er nicht alles, was er bisher in seinem Leben getan hatte, in Frage stellen müssen.

„Dann betet also", antwortete er knapp. „Ich werde warten."

Alexander verbeugte sich zum Dank und ging die wenigen Schritte bis zu der Stelle zurück, wo der Sand trotz dem Wind noch immer ein wenig eingedrückt und von feinen Blutspuren benetzt war.

„Hört zu!", rief ihm Peitholaos nach, bevor sich Alexander wieder hinknien konnte. „Ihr sollt mich nicht Herr nennen."

Alexander drehte sich überrascht um und betrachtete den anderen ernst. „Ich bin euer Gefangener", erwiderte er.

Peitholaos schwieg. Es schien ihm, als hörte er vom Lager her die aufgeregten Stimmen der Männer. Sie werden uns suchen, dachte er. Sie können jeden Moment hier sein.

„Ihr", begann er und wartete noch einmal, obwohl er nicht wusste, worauf. „Ihr seid der rechtmäßige König der Juden."

Alexander senkte den Blick. „Ich habe versagt", entgegnete er trocken und kaum wahrnehmbar.

„Ihr ward schlecht beraten", widersprach ihm Peitholaos, dessen Stimme mit einem Mal einen leidenschaftlichen Klang angenommen hatte. „Mit besseren Offizieren hättet ihr die Römer vielleicht besiegen können."

„Mit einem Offizier wie...", führte Alexander seine Rede fort, doch Peitholaos unterbrach ihn sofort.

„Schweigt", zischte er. Dem lauter werdenden Hufgetrampel nach mussten die Soldaten in unmittelbarer Nähe sein. Alexander schien dasselbe zu denken.

„Peitholaos", sagte er eindringlich, wie nur ein Herrscher zu sprechen vermag, „schwört mir eure Treue."

„Ich schwöre bei meinem Leben", antwortete Peitholaos ohne zu zögern.

„Gut", gab Alexander zurück und hielt Peitholaos die überkreuzten, von Blut und Asche verschmierten Handgelenke hin, damit er ihn fesseln konnte. „Dann bringt mich nach Damaskus, wie es Gabinius befiehlt. Und vergesst nicht, das Schicksal Israels liegt in euren Händen."

Priester und KönigeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt