Kapitel 1

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Im Bus war es rappelvoll. Überall drängelten sich Menschen mit Koffern und Handtaschen durch die engen Durchgänge und Kinder heulten. Es war nicht auszuhalten. Aus meinen Kopfhörern dröhnte Musik. Ich hatte sie auf volle Lautstärke gedreht, und trotzdem hörte ich die Kinder nach ihren Eltern rufen. Was für ein Albtraum.

Als der Bus an der Haltestelle des Flughafens anhielt strömten alle raus. Ein Mann zerquetsche mich im ganzen Gewusel und drückte mich gegen eine Frau, während ich versuchte, nicht zu atmen. Der Gestank war widerlich. Ja, das würde diese Mischung aus zu viel Parfüm und Schweiß ziemlich gut beschreiben.

Ich bemühte mich, meinen kleinen Rollkoffer nicht loszulassen - was bei so einem großen Menschenpudding nahezu unmöglich war - und achtete darauf, nicht über den Haufen gerannt zu werden. Zu meiner Überraschung schaffte ich es doch noch durch die Kofferabgabe und Passkontrolle, allerdings nur mit der Hilfe von mehreren "Entschuldigungs" und "Könnten Sie bittes...?". Ich ärgerte mich inzwischen über mich selbst, zumindest bis mir einfiel, dass es nicht meine Entscheidung gewesen war, die Sommerferien bei meiner Tante in Los Angeles zu verbringen - sondern die meiner Eltern. Klar, LA war schön und mit Hollywood und so, aber die Erinnerungen an die letzten Ferien mit Tante Betty spukten nun immer deutlicher und wie ein Warnschild in meinem Kopf herum. Seufzend wartete ich knappe zwei Stunden ohne jegliche Internetverbindung in der großen Flughafenhalle, bis die Durchsage ertönte, dass der Flug gleich starten würde. Ich erhob mich, wurde von einer netten Lady begrüßt, dann von noch einer, stöpselte meine Kopfhörer aus und bemühte mich erfolglos, die Reiseübelkeit von mir fernzuhalten, die schon jetzt, noch vor dem Flug, Besitz von mir ergriff.

Als ich mein Ticket der Flugbeamtin reichte, fixierte sie mich mit einem skeptischen Blick. „Wo sind denn deine Eltern?", fragte sie mich und beugte sich zu mir runter, als wäre ich ein Kleinkind. Wie sehr es mich manchmal nervte, so viel kleiner zu sein als der Durchschnitt. „Die sind nicht da." erwiderte ich möglichst freundlich, konnte aber nicht verhindern, dass sich etwas Böses in mein Lächeln stahl. Spätestens an meinem Gesicht hätte die Frau doch erkennen müssen, dass ich keine 10 mehr war.

„Unter 14 darf man nicht ohne Erziehungsberechtigte reisen, junge Dame", meinte die Flugbeamtin nun und machte so ein Ich-weiß-alles-besser-als-du-weil-ich-schon-erwachsen-bin-Gesicht  „Hier ist mein Reisepass, sehen Sie?" Ich hatte es inzwischen aufgegeben, zu lächeln.

„Nun gut. Du bist 15 also kannst du rein, Carlotta Mountfitchet", sagte sie und lächelte. Es war ein gehässiges Lächeln - ein wenig so wie das, dass ich vorhin aufgesetzt hatte. Ich konnte mir ein "Ach nee" nicht verkneifen und stieg schließlich mit meinem Rucksack ins Flugzeug, auf der Suche nach meinem Sitz.

Natürlich war das Glück auf meiner Seite - ich durfte zwischen einem Ehepaar mit heulendem Baby sitzen. Gut, das Baby heulte noch nicht, trotzdem; es war nur eine Frage der Zeit, bis es sich über irgendwas beschweren würde. Ich lehnte mich an meinen Sitz und schloss die Augen. Gestern erst hatte ich meinen Bruder in seinem Zimmer gefunden. Er hatte sich über Tante Betty lustig gemacht und Witze darüber gerissen, dass ich höchst wahrscheinlich neben einem Paar mit Kleinkind sitzen würde. Ohne ein Geräusch von sich zu geben hat er daraufhin gelacht. Und er war 17. Er hatte nur das Glück, von seinem Freund auf eine Villa in Mallorca eingeladen zu werden, im Gegensatz zu mir. Nach 10 Minuten hatte er sich aber wieder gefasst und mich aus seinem Zimmer gescheucht. Ich holte mein Handy aus meiner Jackentasche und konnte es mir nicht verkneifen, ihm eine Nachricht zu schicken.

„Rate mal neben wem ich sitze, Bruderherz."

Die Antwort kam sofort. Wahrscheinlich hatte er nur darauf gewartet.

„Neben einem Ehepaar mit heulendem Baby?", riet er.

„Woher weißt du das?!"

„Rate mal, wer dir deinen Platz reserviert hat", war seine Antwort.

Ich realisierte und antworte mit einem "Ich hasse dich, Flynn.", bevor ich einmal langgezogen seufzte.

Er wusste, dass ich es nicht böse meinte. Ich wusste es auch. Dennoch war ich bis zu einem gewissen Grad sauer auf meinen Bruder. Ich entschied mich dafür, dass Handy wegzulegen und betrachtete die anderen Passagiere meiner Sitzreihe genauer. Ein Mann mit braunen Haaren saß zu meiner Rechten, mit einem Baby auf dem Schoß, links von mir war anscheinend die Mutter des Kindes.

Und ich saß zwischen ihnen, wie eine menschliche Barriere. Oder irgend so ein reißender Fluss, der eine Familie voneinander trennte, wie in diesen dramatischen Büchern, haha. Was für ein schöner Vergleich, fiel mir auf. So passend, irgendwie. Nur, dass ich weder reißend (reizend oder hinreißend aber ganz bestimmt), noch ein Fluss war, auch wenn ich laut meiner Biolehrerin zu 80% aus Wasser bestand.

Ich stöpselte meine Kopfhörer erneut ein. Der Flug würde 13 Stunden dauern. 13! Es war gerade kurz nach 5 Uhr morgens, trotzdem würde ich um 9 Uhr morgens in LA ankommen. Zeitunterschied und so. Ich verstand es bis heute nicht richtig. Okay, eigentlich schon. Aber ich sagte gerne, dass ich es nicht verstand. Während ich mich in Gedanken verstrickte und Musik hörte, merkte ich nicht, wie ich immer müder wurde und die Augen schloss. Als ich jene wieder öffnete, war das Flugzeug gerade im Sinkflug. Lustiger Zufall, fand ich. Ich stand langsam auf, streckte mich und merkte, dass man noch nicht aufstehen durfte. Ich setzte mich also wieder hin und wartete.



Why me?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt